Rechtsstreit um Schwellenwert für Invaliditätsleistung

5.2.2025 – Die Unfallversicherung sah einen Schwellenwert von einem Prozent für eine Leistung bei dauernder Invalidität vor. Unter Berücksichtigung der ärztlich festgestellten Dauerinvalidität, des Beinwertes und des Mitwirkungsanteils bestehender Vorerkrankungen ergab sich eine Invalidität von 0,35 Prozent – der Versicherer ist daher leistungsfrei.

Bild: Tingey Injury Law Firm
Bild: Tingey Injury Law Firm

Im September 2019 erlitt G.G. bei einem Sturz Verletzungen des linken Knies. Nach dem Unfall trat bei ihm eine dauernde Invalidität im Ausmaß von zwei Prozent des Beinwerts auf.

Bereits zuvor waren aufgrund einer Beinachsenfehlstellung der Meniskus geschädigt und Gelenkflächen im Knie arthrotisch verändert gewesen; der Mitwirkungsanteil dieser bereits vor dem Unfall bestehenden Erkrankungen beträgt 75 Prozent.

Bei einem weiteren Sturz im Mai 2020 erlitt G.G. eine Zerrung des linken Kniegelenks, was aber keine dauernde Invalidität zur Folge hatte.

Im Juni 2021 wurde ihm links eine Knietotalendoprothese implantiert. Einzige Ursachen dafür waren die Beinachsenfehlstellung sowie die dadurch bedingte Arthroseentwicklung und Kniegelenksschädigung. Es gab keinen Zusammenhang der Operation mit den beiden Unfällen.

Bedingungslage

G.G. verfügte über einen Unfallversicherungsvertrag. Bei dauernder Invalidität sah dieser eine Versicherungsleistung vor, die sich durch Multiplikation des ärztlich festgestellten Grades der dauernden Invalidität mit der für diesen Invaliditätsgrad festgelegten Versicherungssumme errechnet.

Für bestimmte, taxativ aufgezählte Verletzungen, war eine garantierte Sofortauszahlung vereinbart. Für den Fall, dass später ein niedrigerer Invaliditätsgrad festgestellt wurde, konnte die erbrachte Mehrleistung zurückgefordert werden.

Krankheiten oder Gebrechen, die bei der durch einen Unfall hervorgerufenen Gesundheitsschädigung mitgewirkt haben, sollten den Prozentsatz des Invaliditätsgrades vermindern, sofern ihr Anteil mindestens 30 Prozent betrug. Das galt auch bei einem abnützungsbedingten Einfluss.

Versicherer forderte Sofortleistung zurück

Vom Unfallversicherer erhielt G.G. nach dem Unfall im September 2019 eine Sofortzahlung von 4.000 Euro. Die Leistung wurde für einen Invaliditätsgrad von zwei Prozent erbracht und mit Schreiben vom Februar 2022 zurückgefordert.

Daraufhin reichte G.G. Klage gegen den Versicherer ein. Es sei bei ihm nach dem Unfall im Jahr 2019 eine dauernde Invalidität von mindestens zehn Prozent eingetreten, wofür ihm eine Invaliditätsentschädigung von 14.000 Euro abzüglich Sofortzahlung zustehe.

Er bestreitet, dass Erkrankungen oder Gebrechen vorhanden gewesen wären, die über das alterstypische Ausmaß hinausgegangen sind. Ein allfälliger Mitwirkungsanteil bestehender Erkrankungen oder Gebrechen liege bei unter 30 Prozent.

Vorinstanzen weisen Klage ab

Der Versicherer entgegnet, bei einer Dauerinvalidität von zwei Prozent des Beinwertes von 70 Prozent betrage die Dauerinvalidität unter Berücksichtigung des Mitwirkungsanteils von 75 Prozent 0,35 Prozent. Eine Leistung erfolge bei einem Freizeitunfall erst ab einer Dauerinvalidität von einem Prozent.

Erst- und Berufungsgericht wiesen die Klage ab. G.G. gebühre aus dem Unfall von 2019 keine Leistung, da die Versicherungsbedingungen einen Schwellenwert von einem Prozent unfallbedingter Dauerinvalidität normieren, jene des Klägers aber unter diesem Wert liege.

Auch aufgrund des zweiten Unfalls habe er keinen Anspruch, ebenso wenig könne er für den Krankenhausaufenthalt Genesungsgeld fordern, da dieser nur im Zusammenhang mit der unfallfremden Implantation der Knietotalendoprothese stand.

Die Revision vor dem Obersten Gerichtshof wurde vom Berufungsgericht zugelassen. Gegenstand der Revision war nur noch die Beurteilung des Invaliditätsgrades und einer Versicherungsleistung für den Unfall im Jahr 2019.

Gliedertaxe bei teilweisem Funktionsverlust

In seiner rechtlichen Beurteilung geht der Oberste Gerichtshof auf den Begriff der dauernden Invalidität ein. Dabei handle es sich um den gänzlichen oder teilweisen Verlust von Körperteilen oder Organen und/oder die Einschränkung ihrer Funktionsfähigkeit.

Im vorliegenden Fall sei die „Gliedertaxe“ vereinbart. Diese bestimme nach einem abstrakten und generellen Maßstab für eine Vielzahl von Gliedmaßen und körperlichen Funktionen feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit der mit ihnen benannten Glieder, so der OGH.

Hier betrage der Beinwert 70 Prozent. Bei teilweiser Funktions- oder Gebrauchsunfähigkeit werde ein entsprechender Teil des Prozentsatzes angenommen, wobei die Funktions- oder Gebrauchsunfähigkeit üblicherweise in Bruchteilen der vollen Gebrauchsunfähigkeit ausgedrückt wird.

Kein Versicherungsschutz für unfallfremde Ursachen

Die hier vorliegenden Bedingungen enthalten eine Regelung zur Leistungskürzung bei mitwirkenden Ursachen, erläutert der OGH. Sinn sei, dass der Versicherer nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen eine Leistung zu erbringen hat.

Haben Krankheiten oder Gebrechen, die schon vor dem Unfall bestanden, bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, so seien der Invaliditätsgrad und die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu vermindern.

Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer werde verstehen, dass unfallfremde Krankheiten oder Gebrechen grundsätzlich zu seinen Lasten gehen und daher zu einer Kürzung des Anspruchs oder zu einem Abzug von der Gesamtinvalidität führen.

Es gehe dabei aber ausschließlich um die Mitwirkung der Krankheit oder des Gebrechens auf die Unfallfolgen; nicht relevant sei, ob Vorerkrankungen beim Unfallereignis mitgewirkt haben.

Versicherer ist leistungsfrei

Im vorliegenden Fall sehe der Unfallversicherungsvertrag gestaffelte Versicherungsleistungen vor. Diese betragen bei einer Versicherungssumme von 200.000 Euro und einer dauernden Invalidität von einem bis 19 Prozent 2.000 bis 38.000 Euro.

Für eine Invalidität unter dem Schwellenwert von einem Prozent werde keine Versicherungsleistung genannt. Daher habe der Versicherer unter diesem Grad der dauernden Invalidität auch keine Leistung zu erbringen, so der OGH.

Beim Unfall im Jahr 2019 habe G.G. einen Invaliditätsgrad im Ausmaß von zwei Prozent des Beinwerts von 70 Prozent erlitten. Zu berücksichtigen sei der Mitwirkungsanteil von 75 Prozent. Durch Kürzung um diesen Mitwirkungsanteil ergebe sich der unfallbedingte Invaliditätsgrad.

Daher betrage der maßgebliche ärztlich festgestellte Grad der dauernden Invalidität 0,35 Prozent. Da die dauernde Invalidität damit unter dem Schwellenwert liegt, stehe G.G. für diesen Unfall keine Versicherungsleistung zu. Der Revision wurde nicht Folge gegeben.

Die Entscheidung im Volltext

Die OGH-Entscheidung 7Ob201/24w vom 18. Dezember 2024 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.

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Gesundheitsreform · Invalidität
 
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