22.7.2024 – Bei einem Unfall mit einem Traktor auf einer Kreuzung zweier Güterwege verstarb ein Radfahrer; seine Witwe fordert unter anderem Trauerschmerzensgeld. Dieses stehe ihr nur zu, wenn der Traktorfahrer den Vorrang des Radfahrers grob fahrlässig gänzlich missachtet hat und ohne nach links zu blicken in die Kreuzung eingefahren ist, so der OGH.
Im August 2021 ereignete sich auf der Kreuzung zweier Güterwege in Oberösterreich ein Unfall zwischen einem Traktor und dem Fahrer eines E-Bikes, bei dem dieser ums Leben kam.
Seine Witwe fordert vom Traktorfahrer und von dessen Haftpflichtversicherer Trauerschmerzensgeld und den Ersatz von Beistandsleistungen des Getöteten im Haushalt.
Der Traktorfahrer war mit rund 20 km/h unterwegs gewesen, als er sich der Kreuzung näherte; das für ihn geltende Verkehrszeichen „Vorrang geben“ nahm er zwar wahr, fuhr aber dennoch in den anderen Güterweg ein, sodass es zur Kollision kam.
Die beiden Güterwege münden in einem Winkel von rund 45 Grad ineinander; im Bereich der Unfallstelle befindet sich eine dreieckige Grünfläche mit einem Baum, der einen Stammdurchmesser von etwa 30 cm hat.
Der Traktorfahrer hätte den Radfahrer bereits fast zehn Sekunden vor dem Unfall durch das Seitenfenster sehen können. 3,4 Sekunden vor der Kollision hätte er den Traktor jedenfalls rechtzeitig zum Stillstand bringen können.
Der Baum verdeckte seine Sicht nur zum Teil 0,1 Sekunden lang, anschließend hatte er immer noch 2,3 Sekunden Sicht auf den Radfahrer; auch dann hätte er den Traktor noch unfallvermeidend abbremsen können.
Erst- und Berufungsgericht wiesen die Klage der Witwe ab. Ein durchschnittlich sorgfältiger Traktorfahrer hätte 3,4 Sekunden vor der Kollision nach links geblickt; bei einer Reaktionszeit von 0,6 bis 0,8 Sekunden sei seine Reaktion um 2,6 bis 2,8 Sekunden verzögert gewesen.
Dies rechtfertige nicht den Vorwurf grober Fahrlässigkeit, weshalb kein Anspruch auf Trauerschmerzensgeld bestehe. Der Anspruch auf den Ersatz von Naturalleistungen sei angesichts der kongruenten Witwenpension auf den Sozialversicherungsträger übergegangen.
Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts legte die Witwe Revision beim Obersten Gerichtshof ein. Diese wurde zur Frage zugelassen, ob eine subjektiv empfundene Sichtbeeinträchtigung bei einer Vorrangverletzung ein eigenständiges Verschuldenskriterium darstelle.
Der OGH erklärt in seiner rechtlichen Beurteilung einleitend, dass die Revision zulässig sei, weil die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um den Verschuldensgrad des Traktorfahrers abschließend zu beurteilen.
Trauerschmerzensgeld werde nach ständiger Rechtsprechung nahen Angehörigen nur bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz zugesprochen, so der OGH weiter.
Grobe Fahrlässigkeit sei dann anzunehmen, wenn eine Sorgfaltspflicht ungewöhnlich und auffallend vernachlässigt wird; das Verhalten des Schädigers müsse sich auffallend aus der Menge der unvermeidlichen Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens herausheben und auch subjektiv schwerstens vorwerfbar sein.
Ein Fahrzeuglenker, der Nachrang hat, müsse den bevorrangten Verkehr gehörig beobachten, um die im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden oder zu behindern. Im Falle einer Sichtbehinderung müsse er sich äußerst vorsichtig zur Kreuzung vortasten, bis er die notwendige Sicht hat.
Im vorliegenden Fall hätte der Traktorfahrer aber den Radfahrer trotz des Baumes sehen und ihn durch einen einfachen Blick nach links in einem Zeitraum von mehr als neun Sekunden wahrnehmen können. Er habe keine Reaktionsverzögerung, sondern einen Beobachtungsfehler zu verantworten.
Nicht jeder Beobachtungsfehler bedeute aber grobe Fahrlässigkeit, so der OGH; dies hänge von den Umständen des Einzelfalles ab. Hier stehe nicht fest, ob sich der Traktorfahrer, bevor er in den Kreuzungsbereich einfuhr, in irgendeiner Weise vergewissert hat, ob dies gefahrlos möglich ist.
Würde es sich um ein gänzliches Missachten des Vorrangs handeln, weil der Traktorfahrer ohne nach links zu blicken in die Kreuzung eingefahren ist, würde dies den Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit begründen, was den Zuspruch von Trauerschmerzensgeld rechtfertigen würde.
Was den Ersatz von Beistandsleitungen betreffe, bestehe zwischen der Witwenpension und den Schadenersatzansprüchen der Witwe sachliche Kongruenz; in diesem Punkt hat der OGH die Abweisung der Klage durch die Vorinstanzen bestätigt.
Bezüglich des Trauerschmerzensgeldes müsse das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren Feststellungen dazu treffen, ob sich der Traktorfahrer vor dem Einfahren in die Kreuzung in irgendeiner Weise vergewissert hat, ob das gefahrlos möglich sei. Der Revision wurde teilweise Folge gegeben.
Die OGH-Entscheidung 2Ob63/24i vom 25. Juni 2024 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
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