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OGH zur Verkehrssicherungspflicht auf einem Jahrmarkt

24.7.2024 – Gerade ein Förderband sei eine leicht erkennbare Gefahrenquelle, können doch beispielsweise Haare oder Kleidungsstücke eingezogen werden, was zu schweren Verletzungen oder zum Tod führen kann, betont der Oberste Gerichtshof. Weil die Videoüberwachung unzureichend und der Notstoppknopf nicht als solcher erkennbar war, hat der Betreiber der Anlage seine Verkehrssicherungspflicht verletzt.

Bild: Tingey Injury Law Firm
Bild: Tingey Injury Law Firm

Im November 2019 ereignete sich kurz nach Mitternacht auf einem Markt in Niederösterreich ein Unfall in einem sogenannten „Laufgeschäft“. Dieses ist so konzipiert, dass Besucher durch besondere Bodenverhältnisse aus dem Gleichgewicht gebracht werden sollen.

Im vorliegenden Fall befand sich unter anderem auf der mittleren Etage ein Förderband, das in Schrittgeschwindigkeit lief. Dieses verfügte auf einer Seite über einen Handlauf, der sich nicht mitbewegt.

Am Beginn des Förderbandes ist an der Wand ein roter, unbeschrifteter Notfallknopf montiert, mit dem das Förderband angehalten werden kann. Das Förderband kann durch eine starr montierte, nicht schwenkbare Überwachungskamera vom Fahrstand in der untersten Etage überwacht werden.

Förderband läuft trotz Sturz weiter

Eine zum Unfallzeitpunkt nicht alkoholisierte Besucherin betrat das Förderband, hielt sich aber nicht am Handlauf an. Sie stürzte aus nicht feststellbaren Gründen, wobei sich ihre Haare im Förderband verfingen. Das Förderband bewegte sich mangels eines automatischen Notstoppmechanismus weiter.

Dadurch wurden die Haare bis zur Kopfhaut eingezogen. Sie versuchte sich dagegen zu stemmen und begann laut um Hilfe zu rufen. Nach wenigen Sekunden wurden einige Personen in der Nähe auf den Ernst der Lage aufmerksam, erkannten allerdings den Notfallknopf nicht.

Sie winkten dem Mitarbeiter im Fahrstand zu und riefen „Stopp“. Der Mitarbeiter konnte den Sturz nicht erkennen, da sein Blick auf die Verunfallte durch andere Personen verdeckt war. Durch den üblicherweise auf dem Markt herrschenden Lärm konnte er auch die Rufe der anderen Besucher nicht wahrnehmen.

Erst als der Mitarbeiter am Bildschirm die winkenden Personen sah, wurde ihm bewusst, dass im Bereich des Förderbandes etwas passiert sein musste. Zwischen dem Sturz der Besucherin und dem Anhalten des Förderbandes vergingen mindestens 30 Sekunden.

Berufungsgericht sieht keine Verletzung der Sorgfaltspflicht

Die Besucherin wurde bei dem Vorfall an der linken Hand und dem rechten Kniegelenk verletzt, ihre Haare mussten, um sie zu befreien, abgeschnitten werden. Vom Betreiber des Laufgeschäfts fordert sie in einer Klage mehr als 18.000 Euro sowie Feststellung der Haftung für zukünftige unfallkausale Schäden.

Das Erstgericht entschied, dass die Forderung dem Grunde nach zu Recht besteht. Es wäre vom Betreiber zu verlangen gewesen, das Förderband wesentlich früher zu stoppen. Dass bis zum Stillstand mindestens 30 Sekunden vergingen, sei als Sorgfaltspflichtverletzung zu werten.

Das Berufungsgericht wies die Klage dagegen ab. Eine lückenlose Überwachung durch Abstellen eines Mitarbeiters zu verlangen, würde die Sicherungspflichten des Betreibers überspannen. Die Überwachung durch eine Kamera, auf die der Mitarbeiter alle paar Sekunden schaut, sei ausreichend.

Dass der Notfallknopf nicht als solcher beschriftet ist, spiele keine Rolle, so das Berufungsgericht. Er sei nämlich durch die rote Farbe und die charakteristische Form eindeutig als solcher zu erkennen. Der Notstopp 30 Sekunden nach dem Sturz sei ein angemessener Zeitraum für eine Reaktion.

OGH zur Verkehrssicherungspflicht

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts legte die Klägerin Revision beim Obersten Gerichtshof ein. Dieser betont einleitend die Verpflichtung der Betreiber einer Anlage, diese in betriebssicherem Zustand zu erhalten und zahlende Benutzer vor erkennbaren Gefahren zu schützen.

Was die Verkehrssicherungspflicht betrifft, sei für die Sicherung von Gefahrenquellen in umso höherem Maße zu sorgen, je weniger angenommen werden kann, dass sich die von der Gefahr betroffenen Personen selbst vor einer Schädigung vorsehen und sichern.

Allerdings dürften auch vertragliche Verkehrssicherungspflichten nicht überspannt werden; es seien nur jene Maßnahmen zu ergreifen, die nach der Verkehrsauffassung verlangt werden können. Alles andere würde auf eine vom Gesetz nicht vorgesehene verschuldensunabhängige Haftung hinauslaufen.

Auf der Hand liegende Gefahr eines Förderbandes

Zwar hänge der konkrete Inhalt einer Verkehrssicherungspflicht immer von den Umständen des Einzelfalles ab, hier habe das Berufungsgericht aber seinen Beurteilungsspielraum überschritten, so der OGH.

Das Berufungsgericht habe zwar richtig erkannt, dass Laufgeschäfte wie im vorliegenden Fall darauf ausgerichtet sind, Besucher zu Unterhaltungszwecken aus dem Gleichgewicht zu bringen. Stürze seien nicht nur zu erwarten, sondern hätten sich in der Vergangenheit auch ereignet.

Gerade ein Förderband sei aber eine leicht erkennbare Gefahrenquelle, weil sich lange Haare oder lose Kleidungsteile in den beweglichen Teilen des Förderbandes verfangen können, was zu schweren Verletzungen oder sogar zum Tod durch Strangulieren führen könne.

Angesichts der auf der Hand liegenden Gefahr erheblicher Schäden für die Besucher sei vom Betreiber des Geschäfts sehr wohl zu verlanden, dass er auf geeignete Weise dafür sorgt, dass auf einen Sturz am Förderband in weniger als 30 Sekunden mit einem Notstopp reagiert wird.

Überwachung war unzureichend

Die vom Förderband ausgehende Gefahr sei dem Betreiber auch bewusst gewesen, habe er den Bereich doch mit einer Videokamera überwachen lassen, so der OGH. Allerdings sei diese Überwachung „jedenfalls unzureichend“ gewesen.

Einerseits sei es dabei immer wieder zu Sichtbehinderungen durch vor der Kamera stehende Personen gekommen, andererseits habe der Mitarbeiter neben der Videoüberwachung auch andere Aufgaben wahrgenommen, sodass eine umgehende Reaktion auf den Vorfall nicht gewährleistet war.

Auch sei es manchmal schwierig gewesen, den Ernst der Lage zu erkennen, weil Besucher aus Spaß eine Gefahrensituation andeuteten; der am Jahrmarkt herrschende Lärmpegel habe zusätzlich die Kommunikation erschwert und die Wahrnehmung von Hilferufen beeinträchtigt.

Notstoppknopf war nicht ohne Weiteres zu erkennen

Als Alternative zur Videoüberwachung habe der Betreiber im vorliegenden Fall zeitweise einen Mitarbeiter für die Überwachung des Förderbandbereichs unmittelbar vor Ort abgestellt; dies zeige, dass eine solche Überwachung grundsätzlich keineswegs unzumutbar sei.

Bei den zahlreichen Besuchern, die sich zum Zeitpunkt des Unfalls am Förderband aufhielten, wäre dies zweckmäßiger als eine reine Videoüberwachung gewesen. Dazu kommt, dass der Notknopf in erster Linie für Mitarbeiter gedacht war, was nur dann sinnvoll ist, wenn ein Mitarbeiter anwesend ist.

Da dieser Notknopf nicht als solcher beschriftet war, wurde Besuchern, die die Notsituation erkannten, eine richtige Reaktion erschwert. Man könne von Besuchern eines Laufgeschäfts nicht erwarten, dass sie irgendwelche roten Knöpfe drücken, deren Funktion für sie nicht ohne Weiteres ersichtlich ist.

Für den Betreiber wäre es aber leicht gewesen, durch Beschriftung oder Piktogramme umstehende Personen in die Lage zu versetzen, einen Notstopp des Förderbandes zu aktvieren. Die Klägerin sei nämlich nicht durch den Sturz, sondern durch die Weiterbewegung des Förderbandes verletzt worden.

Erstgerichtliches Urteil wieder hergestellt

Die Klägerin habe damit die Verletzung einer Sorgfaltspflicht durch den Betreiber der Anlage und die Kausalität dieser Sorgfaltspflichtverletzung für ihren Schaden bewiesen, so der OGH. Der Betreiber wiederum habe nicht bewiesen, dass er die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat.

Damit hafte der Betreiber wegen schuldhafter Verletzung seiner Verkehrssicherungspflicht. Das Leistungsbegehren der bei dem Unfall Verletzten bestehe dem Grund nach zu Recht. Der OGH hat ihrer Revision Folge gegeben und das Teilzwischenurteil des Erstgerichts wieder hergestellt.

Die Entscheidung im Volltext

Die OGH-Entscheidung 1Ob80/24g vom 25. Juni 2024 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.

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