OGH klärt Streit um Verweisbarkeit einer Top-Führungskraft

5.9.2024 – Als Alleinvorstand einer Aktiengesellschaft übte ein Akademiker Tätigkeiten der höchsten Berufsgruppe aus. Da er dazu aus Gesundheitsgründen nicht mehr in der Lage ist, beantragte er eine Berufsunfähigkeitspension. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass ein Verweis auf eine Beschäftigung in der zweiten Führungsebene möglich ist, auch wenn dies mit gewissen Einbußen und Einschränkungen verbunden ist.

Bild: Tingey Injury Law Firm
Bild: Tingey Injury Law Firm

Ein Akademiker, der das Studium der Wirtschaftspädagogik abgeschlossen hat, forderte von der Pensionsversicherungsanstalt zum (ursprünglichen) Stichtag 1. April 2021 eine Berufsunfähigkeitspension.

Er war in den 15 Jahren vor dem 1. April 2021 überwiegend als Geschäftsführer und zum Teil als kaufmännischer Angestellter mit Leitungs- und Managementfunktionen in im Verkehrsbereich tätigen Unternehmen beschäftigt.

Zuletzt war er von 2013 bis 2019 geschäftsführender Vorstand eines lokalen Bahnunternehmens mit rund 20 Mitarbeitern. Er war für sämtliche Vorgänge im Unternehmen verantwortlich und für rechtliche und kaufmännische Agenden, die Mitarbeiterführung sowie das Marketing zuständig.

Die Tätigkeiten waren sowohl nach dem Kollektivvertrag für Handelsangestellte (KVH; Beschäftigungsgruppe 6) als auch nach der Dienst- und Besoldungsordnung für die Bediensteten der österreichischen Privatbahnen (DBO; Direktor) der jeweils höchsten Stufe zuzuordnen.

Dequalifizierungseffekt

Ab Oktober 2019 befand er sich im Krankenstand, ab 1. Jänner 2020 war er ohne Beschäftigung. Durch seine lange Absenz vom Arbeitsmarkt ist ein Dequalifizierungseffekt eingetreten, was zu einem Ausschluss von Tätigkeiten der ersten Führungsebene führt.

Aufgrund seines Leistungskalküls ist er noch in der Lage, Tätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 5 nach dem Kollektivvertrag für Handelsangestellte (KVH) oder als „Abteilungsleiter I“ nach der Dienst- und Besoldungsordnung für die Bediensteten der österreichischen Privatbahnen (DBO) auszuüben.

Dabei handelt es sich um Tätigkeiten in der zweiten Führungsebene im kaufmännischen Bereich. Solche Tätigkeiten hat der Antragsteller bisher zumindest auch als Teiltätigkeiten ausgeübt. Er müsste dafür keine neuen Kenntnisse und Fähigkeiten erlernen.

Seiner Klage auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension wurde von den Vorinstanzen für den Zeitraum vom 1. April bis 31. Dezember 2021 stattgegeben, darüber hinaus abgelehnt. Neuer Stichtag aufgrund der Vollendung des 60. Lebensjahres ist der 1. August 2023.

Tätigkeitsschutz im ASVG

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision des Antragstellers beim Obersten Gerichtshof als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen.

Zu klären sei im Revisionsverfahren, ob der Kläger zum 1. August 2023 die Voraussetzungen des § 273 Absatz 3 (Begriff der Berufsunfähigkeit) in Verbindung mit dem § 255 Absatz4 ASVG (Begriff der Invalidität) erfüllt, so der OGH einleitend.

Der in § 255 Absatz 4 ASVG genannte Tätigkeitsschutz sei kein Arbeitsplatzschutz, sondern eine besondere Form des Berufsschutzes; es komme nicht auf die konkrete Tätigkeit an, sondern auf die „abstrakte Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt.

Gewisse Einbußen müssen hingenommen werden

Nach der Rechtsprechung sei eine Verweisung dann zumutbar, wenn die Verweisungstätigkeit bereits bisher als Teiltätigkeit ausgeübt wurde, damit keine gravierende Lohneinbuße verbunden sei und das Arbeitsumfeld dem bisherigen ähnlich sei, betont der OGH.

Maßgeblich sei bei qualifizierten Angestellten, ob die anzuwendenden Berufskenntnisse, das Maß der Verantwortung, Kontakte mit anderen, Führungsaufgaben, Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der bisher ausgeübten und der Verweistätigkeit einander ähnlich sind.

Zwar müssten gewisse Einbußen an sozialem Prestige und Entlohnung hingenommen werden, eine Änderung auf eine deutlich untergeordnete, nur nach Weisungen und Vorgaben zu verrichtende Tätigkeit wäre aber nicht zumutbar.

Kennzeichen der zweiten Führungsebene

Der Kläger war zuletzt als Alleinvorstand der A. AG für alle rechtlichen und kaufmännischen Agenden, Personalführung und Marketing zuständig. Dies seien abstrakt gesehen typische Kernaufgaben der Unternehmensführung; detaillierte Feststellungen dazu seien nicht nötig, so der OGH.

Mögliche Verweisungstätigkeiten insbesondere im Personalwesen und Marketing würden Aufgaben umfassen, die von ihm auch bisher maßgeblich zu verrichten waren und seien in der zweiten Führungsebene durch Verantwortung und selbständiges Arbeiten gekennzeichnet.

Gewisse Einschränkungen an Eigenständigkeit und Eigenverantwortung müsse er akzeptieren. Auch würden die in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten in der Öffentlichkeit kein wesentlich niedrigeres Ansehen genießen als die Stellung als Vorstand einer Lokalbahn mit 22 Mitarbeitern.

Bei Angestellten geht es um die Berufsgruppe

Eine Verweisung auf Teiltätigkeiten, die den Berufsschutz nicht erhalten können, scheide zwar aus. Allerdings liegen im Verweisungsfeld von Angestellten alle Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie gleichwertige, nicht aber gleiche Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen.

Nur Verweisungen, die einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würden, scheiden aus. Ein gewisser Verlust an sozialem Prestige sei aber hinzunehmen. Hier würde sich durch eine Verweisung auf Tätigkeiten der zweiten Führungsebene das arbeitskulturelle Umfeld des Klägers nicht drastisch ändern.

Insgesamt habe das Berufungsgericht damit die Verweisbarkeit des Klägers „vertretbar bejaht“, so der Oberste Gerichtshof. Die außerordentliche Revision wurde mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückgewiesen.

Die Entscheidung im Volltext

Die OGH-Entscheidung 10ObS42/24k vom 13. August 2024 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.

Schlagwörter zu diesem Artikel
Ausbildung · Berufsunfähigkeit · Gesundheitsreform · Invalidität · Marketing · Mitarbeiter · Sozialrecht
 
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