OGH: „Ewiges Rücktrittsrecht“ wirft neue Fragen auf

8.1.2025 – Kann das unbefristete Rücktrittsrecht bei falscher Belehrung über das Rücktrittsrecht nur beim erstmaligen Vertragsabschluss schlagend werden? Oder erfasst es auch später vorgenommene individualvertragliche (einvernehmliche) Vertragsänderungen, samt entsprechender Informationspflicht des Versicherers? Und wenn Letzteres der Fall ist: Spielen Umfang und Bedeutung der Änderung eine Rolle? Diese Fragen beschäftigen derzeit den OGH. Der EuGH soll zur Klärung beitragen.

Um das „ewige Rücktrittsrecht“ im Falle unzureichender Belehrung über das gesetzliche Rücktrittsrecht war es lange still. Nun hat sich der Oberste Gerichtshof (OGH) neuerlich mit dem Thema befasst.

Der Anlassfall

Frau M. hatte 2013 beim Rechtsvorgänger des beklagten Versicherers eine Lebensversicherung abgeschlossen. 2014 reichte sie bei diesem Rechtsvorgänger einen Änderungsantrag ein, der am 15. Juli einlangte: Ab 1. August 2014 solle die Monatsprämie von 50 auf 100 Euro erhöht werden.

Daraufhin übermittelte er zu dem Versicherungsvertrag einen mit 24. Juli 2014 datierten Nachtrag: Nach diesem betrug die Nachtragsprämie von 1. August bis 1. September 50 Euro, die Folgeprämie ab 1. September 2014 monatlich 100 Euro.

Rund acht Jahre später erklärte M. mit E-Mail vom 27. Juni 2022 den Rücktritt von allen Vertragsänderungen aus den Jahren 2014 und 2015. Begründung: Sie sei nicht über ihr gesetzliches Rücktrittsrecht belehrt worden. M. forderte die Prämiendifferenz samt Zinsen zurück. Der Versicherer lehnte den Rücktritt ab.

Die Rücktrittsbelehrung im Nachtrag

M. trat ihre Ansprüche auf Rückzahlung bezahlter Versicherungsprämien an den Verein für Konsumenteninformation (VKI) ab. Der VKI klagte: Die Belehrung über das Rücktrittsrecht im Versicherungsvertrag sei intransparent und daher unwirksam.

Zudem müsse der Versicherer nicht nur bei Vertragsabschluss, sondern auch bei einer Vertragsänderung über das Rücktrittsrecht belehren. Die Belehrung in den Nachträgen – die relevanten Stellen sind im RIS abrufbar – sei unrichtig gewesen. Deshalb habe M. ein unbefristetes Rücktrittsrecht.

Der Versicherer war anderer Ansicht. Die Belehrung im Vertrag entspreche den gesetzlichen Vorgaben und sei nicht intransparent. Und: Das Rücktrittsrecht der Versicherungsnehmerin knüpfe an den Abschluss an und stehe bei bloßen Vertragsänderungen nicht zu.

Das Erstgericht bestätigte den Standpunkt des Versicherers, das Berufungsgericht schloss sich diesem Urteil an.

Was gilt bei nachträglicher Vertragsänderung?

Justitia (Bild: Tingey Injury Law Firm)
Bild: Tingey Injury Law Firm

Vor dem OGH brachte der VKI zwar nicht mehr vor, dass die Belehrung im Antrag vom August 2013 unrichtig sei. „Die Darstellung sämtlicher Rücktrittsrechte im Versicherungsantrag macht die Belehrung […] auch nicht intransparent gemäß § 6 Abs 3 KSchG“, fügte der OGH hinzu.

„Allerdings kam es im vorliegenden Fall nach dem Abschluss des Versicherungsvertrags im Jahr 2013 in den Jahren 2014 und 2015 zu individualvertraglichen (einvernehmlichen) Änderungen des Versicherungsvertrags“, so der OGH weiter.

Daher stelle sich die Frage, „ob das auf der RL 2009/138/EG (Solvency II; Anm. d. Red.) beruhende Rücktrittsrecht gemäß § 165a VersVG dahin auszulegen ist, dass das Rücktrittsrecht nicht nur den erstmaligen Abschluss eines Vertrags, sondern auch später vorgenommene individualvertragliche (einvernehmliche) Vertragsänderungen erfasst und damit auch diesfalls eine entsprechende Informationspflicht des Versicherers besteht“.

OGH sieht in der Richtlinie Raum für Interpretation

Die Richtlinie lässt hier aus Sicht des OGH Interpretationsspielraum. In der österreichischen Lehre finde sich zu dieser Frage keine Stellungnahme.

In Deutschland werde überwiegend gelehrt, dass das Rücktrittsrecht nicht nur den erstmaligen Abschluss erfasst, sondern auch später vorgenommene einvernehmliche Änderungen, und zwar unabhängig von deren Umfang und Bedeutung.

Teilweise werde aber auch vertreten, dass solche Änderungen „einiges Gewicht“ haben müssten, um ein neuerliches Rücktrittsrecht auslösen zu können.

Übereilungsschutz: Für und Wider

Der OGH merkte an, dass der Sinn und Zweck des Rücktrittsrechts vor allem im Schutz des Versicherungsnehmers vor Übereilung bestehe. Allerdings ergeben sich auch bei diesen Überlegungen Für und Wider.

Denn einerseits lasse sich argumentieren, dass dieser Übereilungsschutz bei bloßen Vertragsänderungen eines bestehenden Vertrags nicht geboten ist, „hat sich der Versicherungsnehmer doch schon vor der Vertragsänderung dazu entschlossen, den Vertrag abzuschließen und damit an das Vertragsverhältnis gebunden zu sein“.

Andererseits könne argumentiert werden, „dass der dargestellte Sinn und Zweck des Rücktrittsrechts gleichermaßen bei individualvertraglichen (einvernehmlichen) Vertragsänderungen relevant ist“, vor allem wenn es sich um wesentliche Änderungen handle, „die in ihrer wirtschaftlichen Tragweite einem Vertragsabschluss gleichkommen“.

Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH

Der OGH reichte die Angelegenheit deshalb an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weiter, der nun in einer Vorabentscheidung zwei Punkte klären soll:

  • Sind Artikel 185 Absatz 1, Absatz 3 Buchstabe j und Absatz 5 Buchstabe c sowie Artikel 186 Absatz 1 der Solvency-II-Richtlinie (2009/138/EG) „dahin auszulegen, dass dem Versicherungsnehmer das Rücktrittsrecht auch im Fall einer späteren individualvertraglichen Vertragsänderung zu einem Lebensversicherungsvertrag zusteht“?
  • Und wenn ja: Steht dem Versicherungsnehmer das Rücktrittsrecht gemäß Artikel 186 Absatz 1 der Richtlinie 2009/138/EG bei jeder späteren individualvertraglichen Vertragsänderung zu, oder hängt das Rücktrittsrecht von Umfang und Bedeutung der Vertragsänderung für den Versicherungsnehmer ab?

Bis die Vorabentscheidung des EuGH einlangt, ist das Verfahren vor dem OGH ausgesetzt.

Die Entscheidung im Volltext

Die OGH-Entscheidung 7Ob155/24f vom 18. Dezember 2024 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.

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