23.1.2025 – Ein Motorradfahrer schlängelte sich zwischen zwei Kolonnen vor und kollidierte mit einer Autotür, die sich vor ihm öffnete. Der Pkw-Lenker wollte vom Motorrad-Haftpflichtversicherer Schadenersatz, weil der Motorradlenker die Sperrlinie überfahren oder zumindest überragt habe. Die Gerichte entschieden gegen den Pkw-Lenker. Das Berufungsgericht hielt ein Überfahren der Sperrlinie in diesem Fall für zulässig. Es ließ zu dieser Frage aber die Revision zu. Der OGH äußerte sich dazu allerdings gar nicht – die Klage sei nämlich schon deshalb zurecht abgewiesen worden, weil der Pkw-Lenker eine objektive Verbotsübertretung nicht habe nachweisen können.
Herr N. war im Mai 2023 mit seinem Pkw auf der Brünner Straße in Wien stadteinwärts unterwegs. Bei der Ampelkreuzung „Am Spitz“ kam es zu einem Unfall.
Zum Unfallort: Die stadteinwärts führende Fahrbahnhälfte hat vor der Kreuzung zwei – mit unterschiedlichen Richtungspfeilen versehene – Fahrstreifen. Sie sind vor der Haltelinie durch eine neun Meter lange Sperrlinie getrennt.
N. hatte rot und hielt vor der Kreuzung auf dem linken Fahrstreifen an. Bis zur Sperrlinie waren rund 60 cm Abstand, das Fahrzeug auf dem rechten Fahrstreifen neben N. war etwa 70 cm von der Sperrlinie entfernt – in Summe also rund 1,30 Meter Raum zwischen den beiden.
In dieser Situation öffnete N.s Beifahrerin die Tür, ohne in den Rückspiegel oder über die Schulter zu blicken. Dabei kollidierte ein Motorrad mit der Tür. Der Motorradlenker hatte von hinten aufgeschlossen und wollte mit Schrittgeschwindigkeit zwischen den Fahrzeugen vorfahren.
Beim „Vorschlängeln“ überfuhr er die Sperrlinie oder überragte sie zumindest. Er hätte die Kollision nach seinem Entschluss vorzufahren nicht mehr verhindern können.
N. forderte daraufhin vom Haftpflichtversicherer des Motorradlenkers Schadenersatz. Seiner Ansicht nach traf den Motorradlenker Alleinverschulden, weil er beim Vorbeifahren die Sperrlinie überfahren habe. Damit habe seine Beifahrerin nicht rechnen müssen.
Der Versicherer verortete das Alleinverschulden hingegen bei N.s Beifahrerin: Der Motorradlenker habe auf das unzulässige Öffnen der Türe nicht mehr unfallvermeidend reagieren können.
Das Bezirksgericht Floridsdorf entschied gegen N. Der Schaden sei nicht vom Schutzzweck des § 9 Abs. 1 StVO – dem Verbot, Sperrlinien zu überfahren – erfasst, der in der vorliegenden Konstellation (nur) das rechtzeitige Einordnen sicherstelle.
Das Landesgericht Wien bestätigte die Entscheidung. Das generelle Verbot, Sperrlinien zu überfahren, sei zwar auch im Anwendungsbereich des § 12 Abs. 5 StVO („Einordnen“, Vorschlängeln) zu beachten. Im vorliegenden Fall diene die Sperrlinie aber nur dem rechtzeitigen Einordnen.
Im Zug des Vorschlängelns bestehe jedoch keine Verpflichtung zum Einordnen gemäß den vorhandenen Richtungspfeilen, weil § 12 Abs. 4 StVO betreffend die Beachtung der Bodenmarkierungen nicht auf § 12 Abs. 5 StVO Bezug nehme.
Wenn also „sich vorschlängelnde“ Fahrzeuge nicht verpflichtet seien, sich entsprechend den Richtungspfeilen einzuordnen, dann wäre es unlogisch, zu verlangen, dass sie die in den letzten Metern vor der Haltelinie angebrachten Sperrlinie beachten, die nur das Einordnen sicherstellen soll. Sie könnten sonst – entgegen der Absicht des Gesetzgebers – nie bis zur Haltelinie vorfahren.
Das Verbot des § 9 Abs 1 StVO, Sperrlinien zu überfahren, beziehe sich nach dem Zweck des § 12 Abs. 5 StVO daher nicht auf „sich vorschlängelnde“ Fahrzeuge bei Sperrlinien, die einzelne Richtungsfahrstreifen vor Kreuzungen im Sinn des § 18 BodenmarkierungsVO („Regelung des Einbiegens durch Richtungspfeile“) trennen.
Das Landesgericht ließ aber zu letzterem Punkt die ordentliche Revision zu. N. wandte sich an den Obersten Gerichtshof (OGH), der zunächst festhielt: Das grundsätzliche Verbot, Sperrlinien zu überfahren, gilt grundsätzlich auch beim „Vorschlängeln“ im Sinne des § 12 Abs. 5 StVO.
Ob dieser Grundsatz gleichermaßen bei Sperrlinien im Sinne von § 18 BodenmarkierungsVO gilt, die durch Richtungspfeile gekennzeichnete Fahrstreifen vor einer Kreuzung voneinander trennen, müsse hier aber gar nicht geklärt werden.
Denn die Abweisung der Klage sei aus anderen, „keine Rechtsfragen der Qualität des § 502 Abs. 1 ZPO (Klärung einer erheblichen Rechtsfrage; Anm.) tangierenden Gründen nicht zu beanstanden“.
§ 9 Abs. 1 StVO verbiete lediglich ein Überfahren von Sperrlinien. Ein solches liege (erst) dann vor, wenn zumindest mit einem Rad auf ihr gefahren wird. Im Anwendungsbereich des § 16 Abs. 2 lit. b StVO („Überholverbote“) dürfe eine Sperrlinie auch nicht überragt werden.
Wenn ein Schadenersatzanspruch auf die Verletzung eines Schutzgesetzes gestützt wird, dann müsse der Geschädigte den Schadenseintritt und die Verletzung des Schutzgesetzes als solche beweisen. Nach den Feststellungen des Erstgerichts habe der Motorradlenker die Sperrlinie überfahren oder überragt.
„Da dem Kläger der Nachweis einer objektiven Übertretung des § 9 Abs. 1 StVO im Sinn eines Überfahrens nicht gelungen ist, erweist sich die Abweisung der Klage schon deshalb als berechtigt, ohne dass es einer Klärung der vom Berufungsgericht aufgeworfenen Frage bedürfte.“ Der OGH wies die Revision zurück.
Die OGH-Entscheidung 2Ob191/24p vom 12. Dezember 2024 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
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