21.11.2023 – Der Oberste Gerichtshof entschied: Aufgrund der gelebten Beziehung zum Stiefsohn stehe dem Stiefvater nach dem Tod des Minderjährigen Schockschmerzensgeld zu. Aufgrund der Objektivierbarkeit eines Schockschadens sei der Kreis der Anspruchsberechtigten weiter zu ziehen als beim Trauerschmerzensgeld. Dazu komme die Tendenz des Gesetzgebers, das Verhältnis zwischen Stiefeltern und Stiefkindern an jenes zwischen Eltern und Kindern anzugleichen und damit gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen.
Wenige Tage nach einem Verkehrsunfall im August 2021 verstarb ein 17-Jähriger, nachdem er als nicht angegurteter Beifahrer eines Pkw aus dem Fahrzeug geschleudert worden war und dabei schwerstens verletzt wurde.
Bei dem Unfall war der Pkw bei Dunkelheit von der regennassen Fahrbahn abgekommen und gegen eine Böschung gefahren; dabei überschlug sich das Fahrzeug und blieb auf dem Dach liegen. Der Fahrer hatte unzulässigerweise fünf Insassen mitgenommen.
In einem Strafurteil wurde er schuldig erkannt, den Unfall grob fahrlässig verursacht und den Tod eines anderen herbeigeführt zu haben, nachdem er sich durch den Genuss von Alkohol in einen Rauschzustand versetzt hatte; zwei Stunden nach der Tat wurden 0,81 Promille gemessen.
In einer Klage gegen den Pkw-Lenker und dessen Haftpflichtversicherer fordert der Stiefvater des getöteten Jugendlichen mehr als 19.000 Euro sowie Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden. Er argumentiert, ihm stünden Trauerschmerzensgeld und Schmerzensgeld für Schockschäden zu.
Schmerzensgeld und weitere unfallkausale Kosten beziffert der Stiefvater mit 25.000 Euro. Da sein Stiefsohn nicht angegurtet gewesen sei, lasse er sich aber ein „Mitverschulden“ von 25 Prozent anrechnen.
Unmittelbar nach der Todesnachricht war der Stiefvater von einem Kriseninterventionsteam psychosozial unterstützt worden und anschließend bis November 2021 arbeitsunfähig. Laut ärztlichen Befunden litt er unter Depressionen und war im April 2022 deshalb auch in stationärer Behandlung.
Die Beklagten erklärten dagegen, eine bloße Nahebeziehung zum Verstorbenen reiche nicht aus, um einen Anspruch auf Schmerzensgeld wegen Trauer oder eines Schocks zu begründen; nur Angehörige der Kernfamilie hätten Anspruch auf Schmerzensgeld.
Der Stiefvater ist mit der Mutter des Verstorbenen seit 2011 verheiratet. Zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens ein Jahr zuvor war der Stiefsohn fünf Jahre alt. Er brachte ihm die deutsche Sprache bei, kümmerte sich um schulische Belange sowie später um dessen Probleme im Zusammenhang mit Suchtgift.
Er sah seinen Stiefsohn als sein erstes Kind an, übernahm gemeinsam mit der Mutter die Erziehung und agierte als fürsorglicher Vater. Mit dem leiblichen Vater, der in Russland wohnt, hatte der Stiefsohn nur einmal im Jahr anlässlich von Besuchen bei der Großmutter in Moskau Kontakt.
Nach der Geburt eines leiblichen Sohnes im Jahr 2012 spielte sich das Familienleben ausschließlich zwischen dem Stiefvater, seinem Stiefsohn, der Mutter und dem Halbbruder ab. Familienmittelpunkt war die Wohnung der Mutter.
Seit 2019 verfügte der Stiefvater auch über eine Dienstwohnung in derselben Stadt, wo er auch gemeldet ist. Dort verbrachte er viel Zeit mit dem Stiefsohn, da die Wohnung der Mutter, die diese als selbständige Fotografin auch als Fotoatelier nutzt, zu klein wurde.
In einem Teilzwischenurteil erklärte das Erstgericht, dass dem Kläger bei der vorliegenden Vater-Kind-ähnlichen Beziehung und der intensiven Gefühlsgemeinschaft Trauerschmerzensgeld zustehe; die beklagten Parteien würden für 75 Prozent der Schäden des Klägers aufgrund des Unfalls haften.
Das Berufungsgericht wies die gesamte Klage dagegen mit einem Endurteil zurück. Nur den Angehörigen der Kernfamilie stehe bei Schockschäden aufgrund der Tötung eines Angehörigen Schmerzensgeld zu.
Würde man die Haftung für Schock- und Trauerschäden auf Angehörige einer Stieffamilie ausdehnen, so bestünde die Gefahr eines Ausuferns der Haftung für grundsätzlich nicht ersatzfähige Drittschäden. Es gebe keine Veranlassung, den Kreis der Anspruchsberechtigten auf die Stiefeltern zu erweitern.
Der Stiefvater wandte sich daraufhin in einer Revision an den Obersten Gerichtshof. Dabei hält er die Forderung nach Trauerschmerzensgeld nicht aufrecht, erklärt aber, dass bei Schockschäden aufgrund des Todes eines Stiefkindes Ersatzpflicht bestehe.
In seiner rechtlichen Beurteilung geht der OGH auf die Ersatzfähigkeit solcher Schockschäden ein. Entscheidend sei, ob das Verhalten des Schädigers „in hohem Maße geeignet war, einen Schockschaden herbeizuführen“.
Dies treffe insbesondere dann zu, wenn der Schockschaden durch das Miterleben oder die Nachricht vom Tode oder einer schwersten Verletzung eines nahen Angehörigen hervorgerufen wurde, so der OGH.
Objektiver Anhaltspunkt für das Vorliegen und das Ausmaß eines ideellen Schadens biete bei einem Schockschaden die eingetretene Gesundheitsgefährdung. Diese Objektivierbarkeit spreche dafür, den Kreis der Anspruchsberechtigten weiter zu ziehen als beim Trauerschmerzensgeld.
Seit Einführung des Familienrechts-Änderungsgesetzes 2009 müssten Personen, die mit einem Elternteil, zu dem sie ein familiäres Verhältnis haben, und dessen minderjährigem Kind in einem Haushalt leben, alles den Umständen nach Zumutbare tun, um das Kindeswohl zu schützen.
Dabei entspreche der Begriff „familiäres Verhältnis“ dem umfassenden Familienbegriff der Menschenrechtskonvention, der auch Stiefvater, Stiefmutter sowie Stiefgeschwister eines Kindes, eingetragene Partner und Lebensgefährten eines Elternteiles umfasst.
Das ASVG bestimme darüber hinaus einen Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung für Angehörige, zu denen auch Stiefkinder, die mit dem Versicherten im gemeinsamen Haushalt leben, gezählt werden.
Schließlich zähle das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz Ehegatten, eingetragene Partner sowie minderjährige ledige Kinder, einschließlich der Adoptiv- und Stiefkinder, zur Kernfamilie.
Dies zeige die Tendenz des Gesetzgebers, das Verhältnis zwischen Stiefeltern und Stiefkindern unter bestimmten Voraussetzungen dem zwischen Eltern und Kind gleichzustellen, was auch gesellschaftlichen Änderungen Rechnung trage, wie die Höchstrichter betonen.
Im vorliegenden Fall habe der Stiefvater, bezogen auf die „gelebte Kernfamilie“ den leiblichen Vater des Minderjährigen ersetzt, indem er sich um Erziehung, schulische Belange und andere Angelegenheiten kümmerte.
Stiefvater, Mutter, minderjähriger Stiefsohn und ab 2012 auch dessen Halbbruder lebten jahrelang in einer Hausgemeinschaft, auch wenn sich das Familienleben teilweise in einer anderen Wohnung abspielte. Der Stiefvater sah seinen Stiefsohn als ersten Sohn an, dieser ihn als Vater, so der OGH.
Angesichts dieser gelebten Beziehung sei der Stiefvater ein Angehöriger mit Anspruch auf Schockschmerzensgeld. Das nur das Zahlungsbegehren betreffende Teilzwischenurteil des Erstgerichts wurde daher wiederhergestellt.
Die OGH-Entscheidung 2Ob126/23b vom 19. September 2023 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
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