3.12.2025 – Der OGH erklärte: Wenn es auf einer schmalen Straße nicht möglich ist, aneinander vorbeizufahren, muss nicht sofort angehalten werden; es reicht, wenn der Stillstand bis zur Mitte der eingesehenen Strecke möglich ist. Eine sofortige Vollbremsung ist aber dann nötig, wenn der entgegenkommende Lenker erkennbar verkehrswidrig handelt und nicht bremst.

Auf einem Güterweg ereignete sich am 6. Oktober 2023 bei Dunkelheit und trockener Fahrbahn im Begegnungsverkehr ein Unfall zwischen einem Pkw und einem Traktor. Der Traktor war zuvor mit 30 bis 35 km/h, der Pkw-Lenker mit rund 50 km/h gefahren.
Der Güterweg war an der Unfallstelle zwischen dem Rand auf der einen Seite und Leitblöcken auf der anderen maximal 4,3 Meter breit. Die Breite der beiden Fahrzeuge betrug in Summe mindestens 4,4 Meter, sodass ein Passieren nur bei einem Einlenken zwischen die Leitblöcke möglich gewesen wäre.
Rund 60 bis 65 Meter vor der späteren Unfallstelle konnte der Pkw-Lenker den Traktor erstmals sehen. Der Traktorfahrer reagierte beim Auftauchen des Pkw mit einer Wegnahme vom Gas und einer leichten Bremsung, sodass die Geschwindigkeit bis zur Kollision auf 5 bis 7 km/h sank.
Der Pkw-Lenker dagegen ging davon aus, dass der Traktorfahrer ausweichen würde und reagierte rund drei Sekunden lang nicht. Erst 20 Meter vor der Unfallstelle führte er eine Vollbremsung durch, konnte die Geschwindigkeit aber nur noch auf 35 km/h reduzieren.
In einer Klage gegen den Lenker, den Halter und den Haftpflichtversicherer des Pkw fordert der Traktorfahrer knapp 35.000 Euro an Reparatur- und Bergungskosten für den in seinem Eigentum stehenden Traktor. Er argumentiert, den Pkw-Lenker treffe das Alleinverschulden am Unfall.
Die Beklagten behaupten dagegen ein Alleinverschulden des Traktorfahrers und stellen eine Gegenforderung von rund 25.000 Euro.
Das Erstgericht ging von einem gleichteiligen Verschulden beider Beteiligter aus; sie hätten gegen das Gebot des Fahrens auf halbe Sicht sowie die Anhaltepflicht verstoßen. Das Berufungsgericht dagegen sah eine Verschuldensteilung im Verhältnis 2 : 1 zu Lasten des Pkw-Fahrers.
Zwar hätten beide Fahrer nicht gegen das Gebot des Fahrens auf halbe Sicht und das Rechtsfahrgebot verstoßen, wohl aber gegen das Anhaltegebot des § 10 Absatz 2 StVO. Weil der Traktorfahrer mit einer leichten Bremsung reagiert habe, wiege sein Verschulden weniger schwer.
Der Traktorbesitzer legte daraufhin außerordentliche Revision beim Obersten Gerichtshof ein. In seiner rechtlichen Beurteilung erklärt dieser, dass dem Berufungsgericht eine Fehlbeurteilung unterlaufen sei.
Das Berufungsgericht hatte nämlich erklärt, dass dem Lenker des Traktors bereits kurz nach gegenseitig erlangter Sicht erkennbar gewesen wäre, dass der Pkw-Lenker nicht innerhalb der halben Sicht anhalten werde und vorwerfbar nur leicht gebremst habe.
Das Berufungsgericht ging dabei aufgrund einer von ihm angestellten Berechnung davon aus, dass der Abstand der beiden Fahrzeuge bei erster wechselseitiger Sicht mindestens 83 Meter betragen habe und der Anhalteweg des Pkw 41 Meter lang gewesen wäre.
Die dazu vom Berufungsgericht angenommenen Sachverhaltselemente hätten aber keine Grundlage in den Feststellungen des Erstgerichts, so der OGH. Insbesondere kritisiert der OGH die Annahme einer Anhaltestrecke des Pkw von 41 Metern bei einer Anfangsgeschwindigkeit von 50 km/h.
Es sei daher nicht verlässlich zu beurteilen, ob dem Traktorfahrer eine Verletzung des § 10 Absatz 2 StVO vorzuwerfen sei. Dieser schreibe vor, dass zwei einander begegnende Fahrzeuge anzuhalten sind, wenn nicht oder nicht ausreichend ausgewichen werden kann.
Diese Verpflichtung treffe beide Lenker gleichermaßen, allerdings müssen sie ihre Fahrzeuge nicht bereits bei erster Sicht zum Stillstand bringen; es genüge, wenn sie diese vor der Mitte der Sichtstrecke anhalten.
Nur bei erkennbar verkehrswidrigem Verhalten des entgegenkommenden Lenkers, aufgrund dessen nicht mehr damit gerechnet werden kann, dass dieser innerhalb der halben Sichtstrecke anhalten wird, bestehe ein Reaktionsanlass zur sofortigen Vollbremsung.
Maßgeblich dafür sei aber die Bremsstrecke des anderen Lenkers. Der OGH trug dem Erstgericht deshalb die Ergänzung des Verfahrens auf, um beurteilen zu können, ob dem Lenker des Traktors tatsächlich eine Verletzung des § 10 Absatz 2 StVO vorzuwerfen ist.
Die OGH-Entscheidung 2Ob151/25g vom 23. Oktober 2025 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
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