Nach Arbeitsunfall: Rechtsstreit um Haftung einer GmbH

20.11.2023 – Ein Arbeiter war zusammen mit einer 120 kg schweren Glasscheibe aus einer Höhe von 7,5 Metern abgestürzt und verletzte sich schwer. Die Sozialversicherungsträger, die Leistungen erbracht haben, fordern von der bauausführenden GmbH und dem Vorarbeiter rund 240.000 Euro. Der OGH entschied, dass das Leistungsbegehren zu Recht besteht. Der Vorarbeiter, der entgegen der Weisung des GmbH-Geschäftsführers gehandelt hatte, gilt als Repräsentant des Unternehmens und ist diesem zuzurechnen.

Bild: Tingey Injury Law Firm
Bild: Tingey Injury Law Firm

Um eine 120 bis 130 kg schwere Glasscheibe auszutauschen, waren zwei Mitarbeiter einer GmbH ungesichert in einer Höhe von 7,5 Metern auf einer rund 40 Zentimeter breiten Brüstung gestanden. Sie wollten sämtliche Schrauben lösen und die Scheibe händisch aus dem Rahmen heben.

Anschließend planten sie, die Scheibe auf einen Gang zwischen Fassade und Brüstung zu stellen. Eigentlich hätten sie laut einer Weisung des GmbH-Geschäftsführers die Demontage nur vorbereiten und dann auf einen Kran mit einem Arbeitskorb warten sollen, um die Glasscheibe herauszuheben.

S., einer der beiden Arbeiter, stürzte bei dieser Arbeit samt der Glasscheibe zu Boden und verletzte sich dabei schwer. Gesetzliche Unfall-, Kranken- und Pensionsversicherung erbrachten daraufhin Leistungen in Höhe von knapp 240.000 Euro.

In einer Klage gegen die GmbH und den anderen Arbeiter als Zweitbeklagtem fordern sie den Ersatz ihrer Zahlungen. Erst- und Berufungsgericht stellten mit einem Teilzwischenurteil fest, dass das Leistungsbegehren dem Grund nach zu Recht besteht.

Für wen eine juristische Person als Dienstgeberin haftet

Daraufhin wandten sich die Beklagten in einer außerordentlichen Revision an den Obersten Gerichtshof. Dieser betont in seiner rechtlichen Beurteilung, dass ein Ersatzanspruch eines Sozialversicherungsträgers nach § 334 ASVG grobes Verschulden des Dienstgebers voraussetzt.

Anzuwenden sei diese Regelung auch dann, wenn der Dienstgeber eine juristische Person ist und ein Arbeitsunfall durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten eines Mitglieds des geschäftsführenden Organs der Gesellschaft verursacht wird.

In einer früheren Entscheidung hatte der OGH darüber hinaus erklärt, dass dies auch für das Verhalten eines Repräsentanten der juristischen Person gilt.

Wann ein Arbeitgeber grob fahrlässig handelt

Der Arbeitgeber müsse den Trägern der Sozialversicherung dann alle Leistungen ersetzen, die diese gewähren müssen, wenn er einen Arbeitsunfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat.

Dies treffe einerseits dann zu, wenn er die ihn treffenden Pflichten aus dem Arbeitnehmerschutz dadurch verletzt hat, dass er zahlreiche konkrete, an ihn als Arbeitgeber adressierte Arbeitnehmerschutzvorschriften außer Acht gelassen hat.

Andererseits habe der Arbeitgeber auch dann vorsätzlich oder grob fahrlässig im Sinn des § 334 ASVG gehandelt, wenn er kein entsprechendes Kontrollsystem im Betrieb eingerichtet hat, um Verstöße gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften hintanzuhalten.

Wer als Repräsentant gilt

Zwar sei eine juristische Person nicht deliktfähig; allerdings sei ihr das Verschulden von Personen, die in ihrer Organisation eine leitende oder überwachende Position innehaben und eine eigenverantwortliche Entscheidungsbefugnis besitzen, zuzurechnen.

Als Repräsentant gelte dabei jeder, der in verantwortlicher, leitender oder überwachender Funktion Tätigkeiten für die juristische Person ausübt; nur Personen, die untergeordnete Tätigkeiten ausüben, kommen nicht in Betracht, so der OGH.

Ob jemand als Repräsentant einer juristischen Person anzusehen ist, richte sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Hier hätten die Vorinstanzen die Auffassung vertreten, der andere Arbeiter sei in verantwortlicher, leitender und überwachender Funktion für die GmbH tätig gewesen.

Leiter der Baustelle hat Entscheidungsbefugnis

Im vorliegenden Fall habe der zweitbeklagte Arbeiter regelmäßig auf den Baustellen der GmbH die Leitung inne. Auch am Tag des Unfalls hatte er als einziger Facharbeiter und Vorarbeiter die Verantwortung für die Baustelle.

Er hatte auch an diesem Tag die Leitung über seine Arbeitskollegen und die durchzuführenden Arbeiten inne und war für die vom Geschäftsführer der GmbH erteilten Anordnungen und Weisungen zur Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften verantwortlich.

Bei diesem Aufgabenbereich könne jedenfalls nicht mehr von einer untergeordneten Tätigkeit ausgegangen werden. Eine Leitungsbefugnis des einzigen auf der Baustelle tätigen Facharbeiters und Vorarbeiters ohne eigenverantwortliche Entscheidungsbefugnis sei schwer denkbar, so der OGH.

Schadenseintritt war durchaus wahrscheinlich

Hier hatte der Vorarbeiter entgegen der mit dem Geschäftsführer vorbesprochenen Vorgangsweise den anderen, kurz danach verunglückten Arbeiter veranlasst, nicht auf den Kran zu warten, sondern auf die in 7,5 Meter Höhe befindliche Brüstung zu steigen, wodurch es zum Absturz kommen konnte.

Zwar bedeute nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften für sich allein bereits das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit. Sei ein Schadenseintritt aber als wahrscheinlich voraussehbar, so könne schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken.

Entscheidend seien die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie die Schwere des Sorgfaltsverstoßes; bei letzterem komme es insbesondere auch auf die Gefährlichkeit der Situation an.

Die Ansicht des Berufungsgerichts, dass der Eintritt des Schadens im vorliegenden Fall nicht nur allenfalls möglich, sondern vielmehr durchaus wahrscheinlich war, sei jedenfalls vertretbar. Da damit keine erhebliche Rechtsfrage aufgeworfen wurde, wies der OGH die Revision zurück.

Die Entscheidung im Volltext

Die OGH-Entscheidung 9ObA68/23z vom 18. Oktober 2023 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.

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Mitarbeiter · Sozialversicherung
 
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