16.7.2024 – Am Ende des Wiener Schwarzenbergplatzes endet auch der Gleiskörper der Straßenbahn, unmittelbar dahinter verschwenkt die Fahrspur für den Individualverkehr auf die Gleise. Ein Lkw-Fahrer wollte schnell vor der sich nähernden Straßenbahn auf die Gleise fahren, es kam zur Kollision. Der OGH entschied: Der Lkw-Fahrer hat den Vorrang der Straßenbahn verletzt, der Haftpflichtversicherer des Lkw muss den Wiener Linien den Schaden ersetzen.
Der Schwarzenbergplatz ist ein großer Platz im Zentrum von Wien, von dem mehrere Straßen wegführen. Eine dieser Straßen ist die Prinz-Eugen-Straße, die in weiterer Folge entlang des Belvederes in Richtung Hauptbahnhof verläuft.
Der Platz wird auch von mehreren Straßenbahnlinien auf eigenen Gleiskörpern durchfahren. Bei der Einmündung der Prinz-Eugen-Straße existieren stadtauswärts zwei Fahrstreifen für den Individualverkehr, die Straßenbahn verlässt kurz davor den eigenen Gleiskörper.
Der rechte Fahrstreifen am Beginn der Prinz-Eugen-Straße dient mit einer Bodenmarkierung ausschließlich dem Rechtsabbiegen in eine Seitengasse, während der linke Fahrstreifen in einem flachen Winkel auf die Gleise der Straßenbahn verschwenkt.
Dieser Stelle näherten sich im April 2019 eine stadtauswärts fahrende Straßenbahn mit einer Geschwindigkeit von rund 35 km/h sowie, auf dem linken der beiden Fahrstreifen, ein Lkw mit ursprünglich etwa 20 bis 30 km/h.
Kurz vor der Verschwenkung des Fahrstreifens beschleunigte der Lkw-Fahrer, um noch vor der Straßenbahn in die Prinz-Eugen-Straße einfahren zu können. Trotz einer Notbremsung konnte der Straßenbahnfahrer eine Kollision nicht mehr verhindern.
Vom Haftpflichtversicherer fordern die Wiener Linien als Halter der Straßenbahn den Ersatz des Sachschadens in Höhe von mehr als 34.000 Euro. Sie argumentieren, der Lenker des Lkw habe den Vorrang der Straßenbahn missachtet.
Der Versicherer dagegen sieht die Alleinschuld beim Straßenbahnfahrer; der Lkw habe seinen Fahrstreifen nicht verlassen, der Unfall wäre vom Straßenbahnfahrer bei zeitgerechter Verringerung der Geschwindigkeit leicht vermeidbar gewesen.
Das Erstgericht sah die Alleinschuld beim Lkw-Fahrer und gab der Klage statt. Nach § 28 Absatz 2 StVO hätte der Lenker des Lkw nicht auf die Gleise fahren dürfen, weil sich die Straßenbahn näherte.
Das Berufungsgericht hob die Entscheidung des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlicher Entscheidung an das Erstgericht zurück.
Ein Mitverschulden des Straßenbahnfahrers würde vorliegen, wenn er nicht rechtzeitig reagiert hätte, obwohl ihm die vom Lkw ausgehende Gefahr bereits erkennbar war, so das Berufungsgericht; dazu würden allerdings Feststellungen fehlen.
Weiters stellte das Berufungsgericht fest, dass mangels Kolonnenverkehrs eine Verpflichtung zum Einordnen im „Reißverschlusssystem“ nach § 11 Absatz 5 StVO nicht bestanden habe und der Lkw-Fahrer nach § 28 Absatz2 StVO der Straßenbahn das Befahren der Gleise hätte ermöglichen müssen.
Gegen diese Entscheidung legten sowohl die Wiener Linien als auch der Haftpflichtversicherer des Lkw Rekurs beim Obersten Gerichtshof ein.
In seiner rechtlichen Beurteilung erklärt dieser einleitend, dass die Verpflichtung zum Einordnen im Reißverschlusssystem Kolonnenverkehr voraussetze. Allerdings sei die Bestimmung über das Einordnen im Reißverschlusssystem auf Schienenfahrzeuge von vornherein nicht anwendbar.
Denn nach § 28 Absatz 2 StVO müssten andere Straßenbenützer Gleise beim Herannahmen eines Schienenfahrzeuges so rasch wie möglich verlassen; außerdem dürfen Gleise unmittelbar vor dem Vorbeifahren eines Schienenfahrzeuges nicht überquert werden.
Im vorliegenden Fall habe es sich auch nicht um eine Kreuzung gehandelt, so der OGH. Im Bereich des Schwarzenbergplatzes würden Schienen und Fahrstreifen nämlich parallel verlaufen, sodass sie Teil derselben Straße seien; auch ein selbständiger Gleiskörper sei Teil der Straße.
Damit hätten sich Straßenbahn und Lkw ursprünglich auf zwei unterschiedlichen Fahrstreifen derselben Straße befunden. Ein Wechsel des Fahrstreifens sei nach § 11 Absatz 1 StVO nur erlaubt, wenn dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich sei.
Hier hätten aber weder die Straßenbahn noch der Lkw den natürlichen Verlauf ihres Fahrstreifens verlassen; die Gleise der Straßenbahn und der Fahrstreifen des Lkw werden an dieser Stelle in ihrem natürlichen Verlauf zusammengeführt und seien beide als fortgesetzt anzusehen.
Werde eine zunächst aus zwei Fahrstreifen bestehende Fahrbahn dem natürlichen Fahrbahnverlauf entsprechend nur mehr in einem Fahrstreifen fortgesetzt, so sei § 19 Absatz 1 StVO sinngemäß anzuwenden, so der OGH.
Demnach haben im Normalfall Fahrzeuge, die von rechts kommen, Vorrang. Schienenfahrzeuge allerdings haben auch dann Vorrang, wenn sie von links kommen.
Das bedeute, dass im vorliegenden Fall die Straßenbahn das Recht hatte, als erste über jene Fläche zu fahren, auf der sich die Fahrbahn und die Gleise überschneiden. Der Lkw-Lenker habe daher mit seinem Fahrmanöver den Vorrang der Straßenbahn verletzt.
Schließlich habe der Straßenbahnfahrer auch darauf vertrauen dürfen, dass der wartepflichtige Lkw-Lenker ihn nicht zum unvermittelten Abbremsen nötigen würde. Als er erkannte, dass der Lkw seine Geschwindigkeit erhöht und auf die Gleise fahren will, habe er sofort eine Notbremsung eingeleitet.
Dass der Straßenbahnfahrer schon früher hätte erkennen können, dass der Lkw-Fahrer beschleunigen und seinen Vorrang verletzten werde, wurde nicht behauptet; Feststellungen dazu seien daher nicht nötig.
Der Rekurs der Wiener Linien erwies sich damit als berechtigt, jener des Versicherers nicht. Der OGH hat das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt.
Die OGH-Entscheidung 2Ob5/24k vom 28. Mai 2024 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
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