2.7.2025 – Nachdem sich ein Anwalt im Ausland eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte, blieben mehrere Gerichtstermine unbesetzt. Weil er keinen Wiedereinsetzungsantrag gestellt und auch keine Weisungen eingeholt hat, verweigert der Haftpflichtversicherer eine Leistung. Der OGH entschied: Sollte sich der Anwalt irrtümlich für eine ungeeignete Maßnahme entschieden haben, habe er seine Pflicht nicht wissentlich verletzt. Da dazu Feststellungen fehlen, wurde die Rechtssache an das Erstgericht zurückverwiesen.
Ein in Wien tätiger selbständiger Rechtsanwalt hatte als Klagevertreter für eine Vielzahl von Anlegern mehr als 1.000 Prozesse gegen zwei Gesellschaften geführt. Im Zeitraum vom 28. Jänner bis 22. Februar 2022 waren in diesen Angelegenheiten insgesamt 32 Verhandlungstermine angesetzt.
Verhandlungen bei Gerichten außerhalb Wiens hatte er in der Vergangenheit stets von Substituten verrichten lassen. Diese beauftragte er jeweils erst kurz vor den jeweiligen Terminen, weil es aufgrund der Corona-Krise immer wieder zu kurzfristigen Vertagungen von Verhandlungen kam.
Der Anwalt befand sich in dieser Zeit im Ausland, wobei er die nötige Kanzleiausstattung mit sich führte. Anfang Februar zog er sich nach eigenen Angaben eine schwere Lebensmittelvergiftung zu, wodurch er völlig handlungsunfähig gewesen sei.
Er habe für vier Verhandlungen zwischen 3. und 10. Februar daher keine Substituten bestellen können. Die Tagsatzungen blieben unbesucht, weshalb abweisende Versäumungsurteile zu Lasten seiner Mandanten ergingen.
Der den Anlegern dadurch insgesamt entstandene Schaden betrage mindestens 209.767,63 Euro; in einem Fall stehe die Höhe des Schadens noch nicht endgültig fest. Von seinem Vermögensschaden-Haftpflichtversicherer fordert der Anwalt Zahlung und Feststellung der Deckungspflicht.
Er habe keinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Tagsatzungen gestellt, weil dieser angesichts der äußerst restriktiven Judikatur mit hoher Wahrscheinlichkeit abgewiesen worden und der Schaden im selben Ausmaß eingetreten wäre.
Der Versicherer lehnt eine Leistung ab. Er beruft sich auf die Risikoausschlüsse der vorsätzlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalles und der wissentlichen Pflichtverletzung. Der Anwalt wäre vor Antritt der Reise verpflichtet gewesen, für eine ordnungsgemäße Vertretung zu sorgen.
Außerdem habe er keine Wiedereinsetzungsanträge gestellt und damit grob schuldhaft seine Rettungsobliegenheit verletzt. Ebenso sei er der Obliegenheit, aktiv Weisungen des Versicherers einzuholen, nicht nachgekommen.
Erst- und Berufungsgericht wiesen die Klage des Anwalts ab, worauf sich dieser in einer Revision an den Obersten Gerichtshof wandte. Dieser geht einleitend auf den Versicherungsschutz gemäß den Bedingungen ein.
Der Anwalt verfügt über eine Vermögensschadens-Haftpflichtversicherung, vereinbart sind die Allgemeinen Versicherungsbedingungen zur Haftpflichtversicherung für Vermögensschäden (AVBV) in der Fassung 1999.
Laut Artikel 4.1.3 dieser Bedingungen bezieht sich der Versicherungsschutz nicht auf Haftpflichtansprüche „wegen Schadenstiftung durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Anweisung oder Bedingung des Machtgebers (Berechtigten) oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung“.
Für einen Verstoß reiche es aus, dass der Versicherungsnehmer seine Pflichtverletzung gekannt hat und der Pflichtverstoß für den Schaden ursächlich war, so der OGH. Bedingter Vorsatz genüge, der Begriff „wissentlich“ beziehe sich auf das Abweichen und müsse nicht die Schadensfolgen umfassen.
Voraussetzung für den Risikoausschluss sei einerseits das Pflichtbewusstsein, ob also der Versicherungsnehmer seine Pflichten kannte und wusste, wie er sich zu verhalten hatte, andererseits sein Pflichtverletzungsbewusstsein, ob er also wusste, dass er die Pflicht verletzt.
Fahrlässige Unkenntnis einer Pflicht oder bloßes Für-möglich-Halten einer Pflicht reiche für einen wissentlichen Pflichtverletzungsvorsatz nicht aus, betont der OGH. Irre ein Versicherungsnehmer über das Bestehen oder den Inhalt einer Pflicht, so sei ein wissentlicher Pflichtverstoß ausgeschlossen.
Darüber hinaus verletze der Versicherungsnehmer seine Pflicht nicht wissentlich, wenn er sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, was er zur Pflichterfüllung tun soll, sich aber irrtümlich für eine ganz oder teilweise ungeeignete Maßnahme entschieden hat.
Im vorliegenden Fall bezweifle der Anwalt nicht die ihn treffende objektive Pflicht, wegen der von ihm zu vertretenden Versäumung der Tagsatzungen ihm bekannte Möglichkeiten auszuschöpfen und Wiedereinsetzungsanträge zu stellen.
Er behaupte aber, die Voraussetzungen geprüft und die Einbringung der Wiedereinsetzungsanträge als aussichtslos beurteilt zu haben. Der Ansicht des Berufungsgerichts, dass der Anwalt nicht „vertretbar“ im Glauben gewesen sei, eine geeignete Maßnahme ergriffen zu haben, widerspricht der OGH.
Die Frage der (Un-)Vertretbarkeit einer Ansicht sage nichts über das Bewusstsein, pflichtwidrig zu handeln, aus. Eine irrtümlich fahrlässige Entscheidung für eine ungeeignete Maßnahme begründe, wie zuvor beschrieben, keine wissentliche Pflichtwidrigkeit.
Allerdings würden „jegliche Feststellungen“ dazu sowie zu der, dem Anwalt ebenfalls vorgeworfenen, mangelhaften Büroorganisation fehlen, weshalb ein Vorliegen des Risikoausschlusses nicht beurteilt werden kann, so der OGH.
Der Versicherungsnehmer habe nach § 62 VersVG bei Eintritt des Versicherungsfalles für die Abwendung und die Minderung des Schadens zu sorgen und dabei wenn möglich Weisungen des Versicherers einzuholen, betont der OGH.
Der Versicherer habe erklärt, dass der Anwalt seine Rettungsobliegenheit verletzt habe, weil er grob schuldhaft keine Wiedereinsetzungsanträge gestellt und darüber hinaus auch keine Weisung des Versicherers eingeholt habe.
Auch hier argumentiere der Anwalt, dass die Einbringung der Wiedereinsetzungsanträge aussichtslos gewesen wäre und dass seine Ansicht auf der ständigen Rechtsprechung beruhe sowie vertretbar gewesen sei. Der Schaden wäre aufgrund der Kosten des Wiedereinsetzungsverfahrens höher gewesen.
Hier fehle ebenfalls jegliche Tatsachengrundlage, so der OGH. Eine Beurteilung der eingewandten grob schuldhaften Verletzung der Rettungsobliegenheit sei nicht möglich. Der OGH hob die Urteile der Vorinstanzen auf und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück.
Die OGH-Entscheidung 7Ob157/24z vom 21. Mai 2025 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
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