Alternativloser Weg, trotzdem Mitverschulden an Glatteisunfall?

15.10.2024 – Der OGH entschied: Bei der Bemessung des Mitverschuldens der Geschädigten ist zu berücksichtigen, dass nach den Feststellungen des Erstgerichts zum Erreichen der Dienststelle kein gefahrloserer Weg existiert hat. Zum geforderten Ersatz des Brutto-Verdienstentgangs erklärt der OGH, dass der Geschädigten nur der Nettoverdienst zuzüglich der durch die Schadenersatzzahlung anfallenden Abgaben zustehe.

Symbolbild (Foto: Thomas Max Müller bei Pixelio.de)
Symbolbild (Foto: Thomas Max
Müller bei Pixelio.de).

Auf dem Weg vom Parkplatz zu ihrer Dienststelle stürzte D. im Jänner 2021 bei Glatteis und verletzte sich. Sie hatte den kürzesten Weg über eine Abfahrtsrampe gewählt, die Nutzung der Rampe durch Fußgänger war weder durch die Hausordnung noch durch ein Schild verboten.

Der Weg über die Rampe war zwar nicht Teil des offiziellen Zugangs zur Dienststelle, wurde aber von den Mitarbeitern regelmäßig verwendet.

Sowohl auf dem Parkplatz als auch auf der Rampe herrschte flächendeckend Glatteis. D. trug an diesem Tag feste Winterstiefel mit dicken Sohlen und flachen Absätzen. Sie bemerkte das Glatteis, dachte aber nicht daran, einen anderen Weg zu wählen.

Der risikoärmste Weg?

Vom Betreiber des Winterdienstes fordert sie in einer Klage knapp 50.000 Euro. Davon entfallen 23.754,06 Euro auf einen Verdienstentgang; es seien ihr über einen Zeitraum von 837 Tagen Zulagen in Höhe von 28,38 Euro brutto entgangen, argumentiert D.

Es treffe sie kein Verschulden an dem Unfall; hätte sie einen anderen Weg zum Neben- oder Haupteingang gewählt, hätte sie eine deutlich längere Strecke auf Glatteis zurücklegen müssen. Dies bedeute, sie habe den risikoärmsten Zugang gewählt.

Der Winterdienstbetreiber sieht dagegen eine Mitschuld von D.: Sie habe nicht den risikoärmsten Zugang gewählt, da die Rampe wegen des hohen Gefälles, fehlender Gehsteige, fehlender Eingangstür und unterschiedlicher Asphaltbeschaffenheit nicht als Abgang geeignet gewesen sei.

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Vorinstanzen widersprüchlich

Das Erstgericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass es an rechtswidrigem Verhalten des Winterdienstbetreibers fehle. Es ging allerdings davon aus, dass D. ihre Dienststelle nur über einen ebenso vereisten und ebenfalls über eine Rampe führenden längeren Weg hätte erreichen können.

Das Berufungsgericht gab der Berufung von D. dagegen teilweise Folge. Es erklärte, der Winterdienstbetreiber habe sich vertragswidrig verhalten und hafte grundsätzlich. D. treffe aber ein Mitverschulden in Höhe von 50 Prozent.

Sie habe freiwillig den Weg über die eisige, abschüssige Rampe gewählt, obwohl sie gewusst habe, dass sie sich dort nirgends fest- oder anhalten könne, wenn sie ausrutsche. Was den Verdienstentgang betrifft, könne D. nur den Nettoverdienst fordern, ihr Begehren sei unschlüssig.

D. legte gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts außerordentliche Revision beim Obersten Gerichtshof ein. Nach den Feststellungen des Erstgerichts habe sie keine „nicht abschüssige“ Alternative zum Erreichen der Dienststelle gehabt; auch könne sie den Bruttobetrag verlangen.

Bei Sorglosigkeit weniger schutzwürdig

In seiner rechtlichen Beurteilung betont der OGH, dass die grundsätzliche Haftung des Winterdienstbetreibers unstrittig feststehe. Es stelle sich aber die Frage, ob D. ein Mitverschulden trifft, wobei ein solches kein Verschulden im technischen Sinn sein müsse, so die Höchstrichter.

Es genüge eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern. Entscheidend sei dabei, ob der Geschädigte jene Sorgfalt außer Acht gelassen habe, die ein ordentlicher und verständiger Mensch in der konkreten Lage zur Vermeidung des Schadens üblicherweise anlegt.

Eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern, zu denen auch die Gesundheit zählt, führe dazu, dass ein Geschädigter nur wenig schutzwürdig sei; der Schädiger müsse deshalb nicht für den Ersatz des gesamten Schadens aufkommen.

Bei der Aufteilung des Verschuldens seien der Grad der Fahrlässigkeit der einzelnen Verkehrsteilnehmer, die Größe und Wahrscheinlichkeit der Gefahren und die Wichtigkeit der verletzten Vorschriften für die Sicherheit des Verkehrs zu berücksichtigen.

Berufungsverfahren war mangelhaft

Im vorliegenden Fall habe das Berufungsgericht ein gleichteiliges Verschulden von D. angenommen. Dies beruhe nicht auf den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts, von denen das Berufungsgericht ohne Durchführung einer Beweiswiederholung abgewichen sei. Das Berufungsverfahren war daher mangelhaft.

Was den Verdienstentgang betrifft, sei die Forderung von D. tatsächlich unschlüssig. Bei der Berechnung des Verdienstentgangs sei grundsätzlich vom Nettoschaden auszugehen, weil dem Geschädigten auch ohne Unfall nur die Nettoeinkünfte verblieben wären.

Damit dem Geschädigten dieser Betrag ungeschmälert verbleibt, müssen ihm aber auch jene Steuern und Abgaben ersetzt werden, die durch die Schadenersatzleistung selbst entstehen; diese sei daher so zu bemessen, dass sie unter Berücksichtigung der durch sie entstehenden Abzüge dem Nettoschaden entspricht.

Insgesamt hat der OGH deshalb die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das aber bei der Frage des Mitverschuldens von D. die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen berücksichtigen muss.

Die Entscheidung im Volltext

Die OGH-Entscheidung 2Ob130/524t vom 10. September 2024 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.

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Gesundheitsreform · Mitarbeiter · Steuern
 
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