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Zwei konträre Risikostrategien – und doch beide berechtigt?

14.11.2024 – „Risiko ist nicht Risiko, eine genaue Spezifikation ist unumgänglich“, stellt Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz hier im vierten Teil der „Statistik verstehen“-Serie fest. Unterschiedliche Risikomaße beschreiben unterschiedliche Risiken, und so kann es denn auch sein, dass zwei Empfehlungen für eine optimale Veranlagungsstrategie in völlig entgegengesetzte Richtungen gehen – und dennoch beide Berater recht haben.

Autor Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)
Autor Christoph Krischanitz
(Bild: Krischanitz)

Als der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Jahr 2002 im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg von den „unknown unknowns“ sprach, verwendete er eigentlich ein Konzept zweier amerikanischer Psychologen aus dem Jahr 1955 („Johari“-Fenster), das dazu diente, Persönlichkeiten besser zu verstehen.

Dieses Bild von den „known knowns“, den „known unknowns“ und den „unknown unknowns“ passt perfekt für die Beschreibung von Unsicherheit. Wenn die Menschheit sich beklagt, dass die „Zeiten unsicherer“ werden, dann sprechen sie meistens davon, dass die sichtbaren Risiken, also die „known unknowns“ größer werden.

Für mich jedoch bedeutet es das Gegenteil, denn alle ungünstigen Szenarien der Zukunft, wie Kriege, Pandemien, Wirtschaftskrisen etc. waren auch vor Bekanntwerden schon in den „unknown unknowns“ enthalten, haben sich jetzt aber realisiert und sind eben deutlicher geworden. Womit auch eine gewisse Bewertbarkeit und Steuerbarkeit einhergeht, wiewohl die Szenarien selbst natürlich höchst unangenehm sind.

„Unknown unknowns“ enthalten die gesamte Zukunft in all ihren Ausprägungen und sind daher so unsicher, dass man nichts gegen sie unternehmen kann und sie auch nicht bewerten kann. Fast könnte man meinen, dann sollten wir uns auch nicht damit belasten. Aber es macht schon Sinn, zumindest gewisse Szenarien vorzudenken und sich im Sinne eines Notfallplans darauf vorzubereiten.

Unterschiedliche Risikomaße

Apropos bewerten. Die Bewertung von Risiken ist die ureigenste Aufgabe der Versicherungsmathematik, und Aktuare sind Meister auf diesem Gebiet.

Grundsätzlich kennt die Statistik viele Maße, die zur Bewertung von Unsicherheiten dienen. Zum Beispiel die Streuungsmaße, wie Standardabweichung, Varianz als absolute Streuungsmaße oder den Variationskoeffizienten (Varianz dividiert durch Erwartungswert-Quadrat) als relatives Streuungsmaß.

Andere Möglichkeiten sind Quantile, also Werte, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht über- oder unterschritten werden. Auch davon gibt es Varianten und spezielle Ausprägungen.

Insgesamt kann man all diese Werte als sogenannte Risikomaße zusammenfassen. Sie alle haben unterschiedliche Eigenschaften und beschreiben unterschiedliche Risiken.

Ein reales Beispiel aus der aktuariellen Praxis

Ein Unternehmen hat ein finanzielles Leistungsversprechen für die Zukunft abgegeben und diesen Betrag mit einem (damals gerechtfertigten) hohen Zins abgezinst.

Dieser abgezinste Wert ist als Kapital vorhanden und liefert bei entsprechender Verzinsung mit dem Rechenzins das geforderte Leistungsversprechen. Leider hat sich aber der Kapitalmarkt verändert (was, wie wir wissen, häufig passiert) und der gewünschte Rechnungszins war nicht mehr risikofrei zu erzielen.

Das Unternehmen musste also Risiko eingehen, was in ungünstigen Szenarien aber dazu führen kann, dass das Leistungsversprechen nicht erfüllt wird.

Also hat sich das Unternehmen Hilfe geholt und unabhängig voneinander zwei renommierte und über jeden Zweifel erhabene Beratungsgesellschaften gebeten, eine optimale Veranlagungsstrategie zu finden, um das „Risiko“ zu minimieren.

Zwei völlig gengesätzliche Empfehlungen

Nach kurzer Zeit lagen die Ergebnisse vor. Wie groß war der Schock, als man bemerkte, dass die ausgearbeiteten Strategien der beiden Berater diametral entgegengesetzt waren: Während der eine eine Aktienquote von mindestens 70 Prozent für unumgänglich hielt, beschwor der andere, die Aktienquote ja nicht über 30 Prozent ansteigen zu lassen.

Wie war das möglich? Ein Rechenfehler, Inkompetenz oder Trunkenheit? Nichts von alldem. Beide Beratungsunternehmen hatten recht! Beide hatten das Risiko mit ihren Veranlagungsstrategien minimiert!

Jedoch, die beiden verwendeten unterschiedliche Risikomaße, sprich, sie gingen von unterschiedlichen Risikokonzeptionen aus.

Risiko ist nicht Risiko

Während der erste die Wahrscheinlichkeit der Nichterfüllung des Leistungsversprechens minimierte, beschränkte der zweite den erwarteten Verlust auf den kleinstmöglichen Wert.

Im ersten Fall hieß das eben, so viel riskante Anlagen wie möglich, um die Chancen zu erhöhen; und im zweiten Fall hieß das, kleine Verluste so rasch wie möglich einzulocken, um sie nicht größer werden zu lassen. Risiko ist also nicht Risiko, eine genaue Spezifikation ist unumgänglich!

Der Value-at-Risk, wie ihn Solvency II verwendet, entspricht übrigens eher dem ersten Ansatz, während die Schweiz mit ihrem Swiss Solvency Test den Expected Shortfall misst, was dem zweiten Ansatz entspricht.

Es gibt noch andere Unsicherheiten

Als Mathematiker müssen wir uns auch noch mit anderen Unsicherheiten beschäftigen. So sind die Datenbasen nicht perfekt und im Moment der Datenerfassung schon veraltet. Es gibt also Messfehler (Eingabefehler) und Änderungsrisiken.

Auch die Modelle, die wir verwenden, sind kein perfektes Ebenbild der Realität, sondern ein vereinfachter Ausschnitt ebendieser und daher zwangsläufig an manchen Stellen ungenau. Die Modellauswahl spielt daher eine große Rolle, ist aber dennoch meist ein subjektives Unterfangen. Aktuarielle Expertise eben und Erfahrung.

Validierung ist daher der wichtigste Prozess bei der Einschätzung von Unsicherheiten und erst nach einiger Zeit stellt sich Vertrauen zum Modell her.

Hoffen wir, dass sich bis dahin nichts ändert. Dass sich keine 9/11s, Kriegsausbrüche oder Covids materialisieren und wir die „unknown unknowns“ als neue „known unknowns“ in unsere Modelle integrieren müssen.

Christoph Krischanitz

Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).

Der nächste Teil der Serie erscheint in zwei Wochen.

Serie „Statistik verstehen“ – bisher erschienen
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