24.4.2025 – Schadenfrequenzen, -arten, -höhen, Modellierung: aus jahreszeitlichem Anlass eine „österliche“ Betrachtung des Umgangs mit Wahrscheinlichkeiten. – Von Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz.
Urnen sind in der Wahrscheinlichkeitstheorie als Anschauungsmaterial immer noch sehr beliebt, obwohl die Verbindung zum Tod von Jahr zu Jahr stärker wird (in Deutschland waren 2023 bereits 80 Prozent aller Bestattungen Feuerbestattungen, Tendenz steigend).
Für die Lebensversicherung ist diese Verbindung von Urne und Tod sehr praxisnah, aber da wir gerade auferstanden sind, sind lebensbejahende Symbole zu bevorzugen.
Denken wir uns also ein Osternest mit 10 bemalten Eiern. 8 dieser Eier sind grün und 2 sind rot.
Da die Osternester von oben gut einsichtig sind, müssen Sie sich nun die Augen verbinden lassen, und nun ziehen Sie vorsichtig (zerbrechlich!) ein Ei aus dem Nest, öffnen die Augenbinde, schauen es sich an und legen es noch vorsichtiger wieder zurück.
Das tun wir Versicherungsmathematiker Tag für Tag, wenn wir Schäden analysieren. Ich meine damit nicht die durch unvorsichtiges Zurücklegen beschädigten Eier, sondern im übertragenen Sinn die Versicherungsschäden, die der Versicherung gemeldet werden.
Grüne Eier stehen hier vereinfachend für kleinere Schäden, also zum Beispiel Blechschäden am Auto, die roten für große Schäden, also wenn beispiels- und tragischerweise ein Kind bei einem Autounfall verletzt wird und langwierige gesundheitliche Komplikationen davonträgt.
80 zu 20 ist ein nicht ganz unrealistisches Verhältnis von Sach- zu Personenschäden in der Kfz-Haftpflichtversicherung.
Das war alles? Das ist die ganze Versicherungsmathematik? Nun ja, nicht ganz.
Wir haben nämlich noch ein zweites Osternest, um das wir uns kümmern müssen.
Da sind wieder 10 Eier drin. Diesmal sind es 9 reinweiß bemalte und ein schwarzes. An der Farbwahl spürt man schon eine gewisse Dramatik. Wofür braucht man dieses Nest? Ganz einfach, wir müssen ja zunächst einmal modellieren, ob überhaupt ein Schaden passiert.
Wir ziehen also zuerst aus dem weiß-schwarzen Osternest. Ziehen wir ein weißes Ei, dann ist alles gut, und wir legen es wieder zurück. Nichts ist passiert.
In der nächsten Phase/Periode wiederholen wir den Prozess. Wenn wir ständig weiße Eier ziehen, haben wir Glück gehabt und es hat keine Schäden gegeben. Wenn wir jedoch das schwarze Ei erwischen, dann ist ein Schaden passiert.
Was genau ist passiert? Wir wenden uns nun unserem grün-roten Nestchen zu, und jetzt dürfen wir dort ein Ei ziehen und finden durch die Ziehung heraus, ob es sich um einen kleinen oder um einen großen Schaden gehandelt hat.
Diese Art der Modellierung nennt man im Englischen „Frequency-Severity-Model“, im Deutschen genügt oft der Begriff „kollektives Modell“, um das zu beschreiben.
Sie haben vielleicht bemerkt, dass es sich um ein geschachteltes Modell handelt. Der Zufall aus der ersten Ziehung bestimmt, ob die zweite Ziehung überhaupt stattfindet oder nicht. Klingt kompliziert, ist es im Allgemeinen auch.
Kann man aus diesen zwei Nestern nicht ein großes machen? Man bräuchte das schwarze nicht, sondern ersetzt das schwarze durch eine gewisse Anzahl an grünen und roten, und ein paar weiße müsste man auch dazugeben. Können Sie das ausrechnen?
Also mit 100 Eiern würde man das Auslangen finden. Man ließe die grünen (8) und roten (2) Eier so, wie sie sind, und ergänze sie mit 90 weißen Eiern. Dann ist weiterhin die Wahrscheinlichkeit, schadenfrei zu bleiben, bei 90 Prozent, und in den 10 Prozent Schadenfällen verteilen sich kleine zu große weiterhin 80 zu 20 (das ist nun eine bedingte Wahrscheinlichkeit!).
Nun also, ein Osternest reicht doch vollständig aus!
Stimmt, aber die Struktur dieses Gesamtosternests ist nun um einiges komplizierter. Ich habe nun drei Farben zu bewältigen, und die Farbverteilung ist nicht mehr ganz klar.
Was nun, wenn ich die Schadenhöhe stärker unterteilen will, was, wenn ich nicht nur einen Schaden pro Ziehung erleiden kann, was, wenn ich gewisse Eier für zwei bis drei Züge nicht mehr zurücklege, sondern erst nach einer gewissen Wartezeit (weil aufgrund eines Unglücks zum Beispiel die Straße längere Zeit gesperrt ist), etc.
Das Zusammenführen dieser zwei Nester zu einem Gesamtnest funktioniert nur so einfach, wenn viele Bedingungen erfüllt sind.
Die Anzahl der benötigten Nester, die Farbgestaltung und die Regeln zum Zurücklegen, das ist die grüne Osterspielwiese der Versicherungsmathematik, und immer steht das Ziel im Vordergrund, die Nester zu einem großen Nest zu vereinigen.
Denn nur dann ist es möglich, gute Rückversicherungslösungen zu finden, die notwendigen Eigenmittel zu definieren und ein Prämienniveau festzulegen, das nachhaltig ist.
Dass da manchmal ein Ei zu Bruch geht, ist ganz klar, zum Eierpecken sind diese dann wohl nicht mehr geeignet und müssen in die Eierurne.
Christoph Krischanitz
Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).
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