11.11.2024 – „Schlupflöcher“ im Vertriebsrecht, ein kritischer Blick auf die Weiterbildungspraxis, fehlende „Versicherungsperspektive“ beim Regulieren, bürokratische Belastung im Vermittlerbüro, „aversive“ Haltungen in der Politik gegenüber dem Berufsstand, ein ständiges Erklären, warum Provision „nichts Böses ist“: Eine prominent besetzte Podiumsrunde hat sich mit Umfang, Art und Weise der Regulierung, Möglichkeiten der Deregulierung und mit Nachschärfungen in Recht und Praxis auseinandergesetzt.
Das Vertriebsrecht der Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) ist nun seit ein paar Jahren in Kraft – und in einigen Punkten ortet Horst Grandits, Obmann des Bundesgremiums der Versicherungsagenten, aufgrund der bisherigen Erfahrungen Nachdenkbedarf.
Das betrifft etwa die Weiterbildung, wie Grandits am Freitag bei einer Podiumsdiskussion des Bundesgremiums zum Thema „Entbürokratisierung und Überregulierung in der Versicherungsbranche“ in Wien sagte.
„Wir bekennen uns zur Weiterbildung“, schickt er vorweg und wies dabei auf die von der Interessenvertretung selbst organisierten Angebote.
Allerdings ist er von manchen Weiterbildungsangeboten von dritter Seite nicht restlos entzückt. Wenn es Webinare gebe, an deren Ende keine Kontrollfragen gestellt werden, oder wenn man stundenlang in einem Saal von Videos „berieselt“ werde – „das ist ja keine Weiterbildung“.
Weiterbildung erfordere, dass man sich mit Experten austauschen kann. Wenn IDD-Zertifizierungen vergeben, „dann soll es auch qualitative Weiterbildung sein“, unterstrich Grandits.
Seitens der Versicherungswirtschaft sagte Maria Althuber-Griesmayr, Leitung Recht und Internationales im Versicherungsverband (VVO), man versuche schon im eigenen Interesse ein ordentliches Bildungsangebot zu offerieren.
Auch Reinhard Pohn, Vertriebsvorstand der Generali Versicherung AG, sagte, die Häuser und die Vermittler hätten großes Interesse, Weiterbildung hochzuhalten.
Ein zentraler Kritikpunkt am Vertriebsrecht ist bekanntermaßen der bürokratische Aufwand. Grandits zeigte Verständnis dafür, dass er bei kapitalbildenden Versicherungen höher ist; wenn es um den Aufwand etwa für Moped- oder Autoversicherungen geht, endet sein Verständnis aber – gerade, wenn man an die Erleichterungen denke, die für Annexversicherungen bis zu 600 Euro gelten.
Die regulatorischen Anforderungen sollten deshalb danach differenziert werden, wo mehr und wo weniger Beratung und Dokumentation nötig sind, so Grandits.
Entlastung wäre auch deshalb willkommen, weil sich einerseits die Anzahl der Vermittler kaum verändere, andererseits aber das Geschäftsvolumen zunehme, zumal auch laufend neue Geschäftsfelder hinzukommen, die betreut werden müssen, Stichwort Cyberversicherung.
Dies bedeute zusätzlichen Aufwand im Kerngeschäft – der angesichts des Gesamtaufwands aber kaum mehr zu stemmen sei.
Althuber-Griesmayr betonte die Wichtigkeit von Qualität und Konsumentenschutz. Zugleich stellte sie aber auch fest, dass weniger Zeit fürs Kerngeschäft bleibe. Problematisch sei, dass „zum Teil leider mit wenig Versicherungsperspektive“ an die Regulierung herangegangen werde.
Das Motto laute dann oft: „Was für Banken funktioniert, muss auch für Versicherungen funktionieren.“ Es komme deshalb darauf an, frühzeitig im Brüsseler Gesetzgebungsprozess Versicherungsexpertise einzubringen.
Pohn beschrieb die Einführung der IDD als herausfordernd, mittlerweile habe man aber gelernt, mit ihr umzugehen. Die Bewältigung des Beratungs- und Dokumentationsprozess sieht er vor allem aus dem Blickwinkel der technischen Infrastruktur.
Das heißt: Wenn „die IT gut aufgesetzt“ sei, lasse sich der Beratungs- und Dokumentationsaufwand deichseln. Deshalb seine Empfehlung an die Agenturen: Energie in die technischen Prozesse investieren, um diese bestmöglich zu gestalten.
Stefan Trojer von der Abteilung Gewerberecht im Wirtschaftsministerium knüpfte daran an. Er glaubt, dass hier technische Hilfsmittel als Lösungen dienen können.
Zur Umsetzung europäischer Regulierung in Österreich sagte Trojer: „Wir sind strikt gegen Goldplating.“ Man bemühe sich, Vorgaben „möglichst eins zu eins“ umzusetzen.
Was die „Abschaffung“ von Regulierungen betrifft, gab er sich zurückhaltender. Es gebe schließlich Gründe dafür, dass Regulierungen zustande kommen. Man müsste also zunächst diese Gründe „abschaffen“, bevor die darauf beruhende Regulierung abgeschafft werden kann, wobei er hier nicht näher ins Detail ging.
Auch Ludwig Pfleger, als Teamleiter Business Conduct in der Finanzmarktaufsicht (FMA) in der Aufsicht über Versicherungsunternehmen und Pensionskassen tätig, meinte, Vorschriften für Aus- und Weiterbildung oder Dokumentation seien kein Selbstzweck.
In der Praxis seien die geforderten 15 Stunden aber ohnehin kein Thema. „Was in der Praxis viel mehr wehtut“, seien zivilrechtliche Streitfälle, die sich um die Vermittlerhaftung drehen. Spätestens in einem Gerichtsverfahren werde ein Vermittler froh sein, wenn er eine gute Dokumentation vorweisen kann. Sie sollte deshalb als „Asset“ gesehen werden, meinte Pfleger.
Gegenfrage: Wenn denn ohnehin die zivilrechtliche Haftung de facto eine „Dokumentationspflicht“ bewirkt, wozu dann noch die Vorschriften der IDD? Mangels einer zivilrechtlichen Harmonisierung auf EU-Ebene werde im Wege öffentlich-rechtlicher Vorgaben reguliert, dies strahle entsprechend aus, erläuterte Pfleger.
Kritisch sieht er die Art und Weise, wie Regulierung verläuft: Man gebe einem Regelwerk nie genug Zeit, um wirklich evaluieren zu können, was sich bewährt hat und was nicht. Evaluierung könnte auch bedeuten, dass Vorschriften wieder zurückgenommen werden. Die gesetzgeberische Realität sehe aber anders aus: „Es kommt immer noch etwas dazu,“ eine Bereinigung finde nicht statt.
Michael Heinz, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Versicherungskaufleute (BVK), stimmte zu, dass Dokumentationspflicht als Asset zu betrachten sei, da sie dem Vermittler helfe. „Ich habe nur etwas dagegen, wenn Brüssel meint, immer wieder was draufsatteln zu können.“
Christian Mandl, Leiter der Abteilung Europapolitik in der Wirtschaftskammer Österreich, berichtete von einer Umfrage, die Market für die WKÖ im März 2024 branchenübergreifend unter rund 1.000 Unternehmen durchgeführt hat.
59 Prozent – unter den KMU 72 Prozent – der Befragten gaben an, der Zeitaufwand für Bürokratie habe in den letzten drei Jahren stark zugenommen. 70 Prozent sehen in der Bürokratie ein Hindernis im internationalen Wettbewerb.
Der Gesamtaufwand auf Bürokratie wurde, im Schnitt aller Unternehmensgrößen, mit 9,4 Stunden pro Woche angegeben; bei KMU war der Wert mit 19,3 Stunden etwa doppelt so hoch.
Die neue EU-Kommission lege einen Fokus auf Bürokratieabbau und Vereinfachung, dies gelte es umzusetzen. Mandl führte in diesem Zusammenhang drei Forderungen der Wirtschaftskammer an.
Erstens: Folgenabschätzungen für ein Gesetz soll es nicht nur geben, wenn die Kommission einen Gesetzesentwurf vorlegt. Vielmehr soll es während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens immer dann Folgenabschätzungen geben, wenn am Entwurf Änderungen vorgenommen werden.
Zweitens: Regulierungen, die an sich nur für große Unternehmen gemacht sind, könnten selbst dann auf kleinere und mittlere Unternehmen durchschlagen können, wenn letztere formell vom Geltungsbereich ausgenommen sind. Das werde etwa am Lieferkettengesetz deutlich. „Think small first“ solle deshalb der Ansatz beim Regulieren sein.
Drittens: Es solle weniger auf Regelungen gesetzt werden, dafür mehr auf Hilfestellungen und Leitlinien. „Tools statt Rules“, so Mandl.
Klarer geregelt gehört indes nach Grandits’ Ansicht, wer was vermitteln darf. Versicherungsverträge sollten nur von Agenten, Maklern, Versicherungsaußendienst sowie Finanzdienstleistern und Banken vermittelt werden dürfen, hält er grundsätzlich fest. Dies stelle sicher, dass die Vorgaben für Ausbildung und Befähigung greifen.
Ein Problem seien dagegen Konstruktionen, über die etwa Mitgliedsbeiträge für ein Versicherungsprodukt eingehoben werden. Wollen wir das als Branche, als Gesetzgeber, als Konsumentenschutz?“ Wenig glücklich macht ihn auch, wenn Versicherung als „Nebenprodukt“ zu einem Hauptprodukt verkauft werde, mit dem es „nicht mehr viel zu tun hat“.
Während also die klassischen Vermittler mit „Auflagen ohne Ende“ konfrontiert seien, gebe es auf der anderen Seite viele Schlupflöcher, fasste Grandits zusammen. Heinz: Für die hauptberuflichen Vermittler seien die Voraussetzungen für den Berufszugang hoch. Gleichzeitig gebe es Vertriebsstrukturen, denen es gelinge, unzureichend qualifizierte Personen für den Vertrieb zu gewinnen.
Soweit es um Umgehungskonstruktionen geht, seien bereits Fälle zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) gelangt, merkte Pfleger an. Für einzelne via Gruppenversicherung gestaltete Konstruktionen liege bereits Judikatur vor. Zudem stehe eine „saubere Regelung für Gruppenverträge und Vereinskonstruktionen“ auf der Agenda der EU-Kommission.
Schließlich kam auch noch das aktuelle Thema Kleinanlegerstrategie („Retail Investment Strategy“, RIS) aufs Tapet und damit die Debatte um die Vergütungsregeln.
Heinz merkte an, der ursprüngliche Gedanke der RIS sei gut. Es sei aber ein Irrtum, zu glauben, Produkte und Qualität der Vermittlung würden besser und mehr Menschen würden dem Kapitalmarkt zugeführt, wenn man die Vergütungsregelung ändere.
Er beklagt, dass die Politik „zunehmend aversiv gegen unseren Berufsstand“ eingestellt sei und „stark ideologisch geprägt“ agiere.
Althuber-Griesmayr sagte, eigentlich sei es Ziel der RIS, einen niederschwelligen Zugang zum Kapitalmarkt zu schaffen. Das Gegenteil passiere aber, wenn Vertriebswegen Verschärfungen auferlegt würden.
Diese Kritik sei zwar gehört worden, allerdings sei „der Kampf noch nicht geschlagen“, manche Details noch ungeklärt, und das Thema Vergütung werde auch in Zukunft „immer wieder kommen“. Man dürfe deshalb nicht müde werden, immer wieder zu erklären, warum das Provisionssystem „nichts Böses ist“.
Pfleger sieht den wesentlichen „Aufhänger“ in der Debatte in einer inhärenten Unterstellung, dass die Vergütung per Provision von vornherein einen Interessenkonflikt bedeute. Er sprach von der Mär, dass deshalb das schlechtere Produkt mit der höheren Provision verkauft würde. „Daran muss man arbeiten.“
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