„Nie gebrauchte“ Schulmathematik (die wir ständig brauchen)

9.1.2025 – „Nicht für die Schule lernen wir …“ Manches, was man im Unterricht lernt, braucht man vermeintlich nachher nie wieder. Aber eben nur vermeintlich. Tatsächlich haben wir laufend mit Schulmathematik zu tun. Das reicht von der Fitnessuhr bis zum Controlling, erklärt Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz im folgenden Beitrag.

Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)
Der Autor: Versicherungsmathematiker
Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)

Neulich wurde ich Zeuge einer Diskussion auf einem beruflich motivierten sozialen Netzwerk, in der über die Weltfremdheit des Mathematik-Unterrichts hergezogen wurde.

Obwohl ich dem grundsätzlich zustimmen möchte, war ich doch einigermaßen überrascht – und enttäuscht.

Man hatte sich soeben auf Kurvendiskussionen eingeschossen und verblüffende Einigung war zu verspüren, dass sie Funktionen, wie y = kx + d in ihrem Leben nie gebraucht hätten.

y = kx + d – die lineare Funktion! Noch nie gebraucht, von Wirtschaftstreibenden, Führungskräften mit festem Wohnsitz, geregeltem Einkommen und möglicherweise Kindern!

Noch nie gebraucht?

Offenbar haben diese Personen noch nie eine Stromrechnung bezahlt mit Grundpreis und verbrauchsabhängigem Preis pro kWh.

Wahrscheinlich zahlen sie ihren Kindern auch kein Schulessensgeld zum Taschengeld dazu, sodass die Kosten pro Monat sich aus Taschengeld plus Essensgeld mal Anzahl der Schultage zusammensetzen.

Auch Taxifahrten werden kaum mehr genutzt, wo man ebenfalls einen Grundpreis zahlt, zu dem kilometer- oder zeitabhängige Gebühren dazukommen.

Tatsächlich ständige Begleiter

Lineare Funktionen begegnen uns ständig. Ohne die mathematische Verallgemeinerung zu einer Gleichung y = kx + d, müsste jeder dieser Fälle separat analysiert werden.

Die Mathematik ermöglicht uns, mit diesem simplen Zusammenhang so viele Phänomene gleichzeitig zu verstehen, nicht nur im Alltag, auch in der Medizin, in der Klimatologie, in den Sozialwissenschaften und in der Technik.

Müssen Sie Steuern zahlen? Dann zahlen Sie die Steuern abhängig vom Einkommen abzüglich gewisser Freibeträge. Ebenfalls ein wunderbares Beispiel (mit einem negativen d).

Machen Sie Dienstreisen und verwenden ihr Auto? Dann bekommen Sie kilometerabhängiges Kilometergeld plus Ihre Diäten.

In der Firma und auf dem Sparbuch

Im Firmenkontext haben Sie sicher schon von variablen Kosten plus Fixkosten gehört, auch der Umsatz lässt sich in vielen Fällen als Summe von Fixerlösen (zum Beispiel über Abonnements oder Wartungsfees, etc.) plus stückkostenabhängige Umsätze beschreiben.

Den Break-even berechnet man dann übrigens als den Schnittpunkt der beiden linearen Funktionen (die man in der Ebene als Geraden darstellen kann).

Sogar die Sparbuchverzinsung ist eine lineare Funktion, wenn man die (in einem früheren Artikel ausführlich diskutierte) Exponentialfunktion einfach logarithmiert. Über diese Logarithmusfunktion (die Multiplikationen in Additionen überführt) lassen sich viele natürliche und ökonomische Entwicklungen ganz einfach linear berechnen.

Das lernen wir alle in der Schule.

Lineare Fitness

Viele von uns, mich eingeschlossen, verwenden Fitnessuhren, um ihre Aktivitäten aufzuzeichnen. Dabei werden auch die verbrauchten Kalorien angezeigt. Diese berechnen sich aus einem Grundbedarf (der sich aus organischer Aktivität ableitet) plus Kalorienbedarf pro kg Körpergewicht. Wieder linear.

Und da man lineare Funktionen invertieren kann (aus y = kx + d folgt auch x = y/k – d/k oder x = 1/k y – d/k, was wieder eine lineare Funktion ist, solange k ungleich 0 ist), kann man daraus auch umgekehrt errechnen, wie sich das Körpergewicht aus der Kalorienzufuhr errechnet.

Wie schön! Auch das lernen wir in der Schule.

Kurvendiskussion in der Wirtschaft

Aber wie ist das denn jetzt mit der Kurvendiskussion? Braucht man die wirklich? Was ist mit Nullstellen, erster und zweiter Ableitung, etc.? Alles unnütz in der Praxis?

Nun, in der Wirtschaft begeben wir uns da sehr stark in die Richtung Optimierung und Risikomanagement.

Der oben angesprochene Break-even entspricht genau der Nullstelle der Gewinnfunktion Umsatz minus Kosten. Jedes (finanzielle) Ziel lässt sich als Nullstelle einer Funktion (nicht immer linear) darstellen.

Wenn man Nullstellen mit deren Abweichungen analysieren kann, ist man also in der Lage, Controlling zu betreiben. Es macht daher Sinn, auch in der Schule nicht-lineare Funktionen zu analysieren.

Erkenntnisse, die man ableiten kann

Ableitungen entsprechen Veränderungsanalysen. Bei linearen Funktionen ist die erste Ableitung konstant (= k), was also bedeutet, jede Veränderung in kWh beim Stromtarif, jeder zusätzliche Schultag beim Essensgeld, jeder gefahrene Kilometer beim Taxi erzeugt Kosten (oder Umsatz) in Höhe des jeweiligen Wertes für k.

Wenn ich einen Stresstest durchführen will oder muss, lässt sich über die erste Ableitung die Auswirkung des Stresses sehr einfach berechnen.

Jeder Risikomanager leitet also permanent die Verlustfunktion des Unternehmens ab. Auch die ist im Allgemeinen nicht linear, daher lernen wir in der Schule das auch etwas allgemeiner.

Leider wissen die Controller und Risikomanager oft selbst nicht, dass sie Kurvendiskussion betreiben, und das Management hat kein Verständnis dafür.

Vieles könnte einfacher sein

Ist die Schulmathematik daher unnötig? Keinesfalls, ganz im Gegenteil, vieles wäre einfacher, wenn die Kurvendiskussion (als herausgegriffenes Beispiel von vielen) auch richtig verstanden wäre.

Warum stimme ich der Weltfremdheit der Schulmathematik trotzdem grundsätzlich zu? Weil sie nicht in der Lage ist, die Inhalte so zu vermitteln, dass die Kurvendiskussion (als herausgegriffenes Beispiel von vielen) auch richtig verstanden wird.

Christoph Krischanitz

Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).

Serie „Statistik verstehen“ – bisher erschienen
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Aktuar · Dienstreise · Steuern
 
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