Mittendrin oder dazwischen durch? Was Werte „wert“ sind

17.10.2024 – Ein Durchschnittswert ist schnell gebildet. Aber was sagt er eigentlich aus? Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz über Durchschnitt, Mittelwert, Modalwert, Erwartungswert – und was sie für die Bepreisung und Veranlagung eigentlich bedeuten.

Autor Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)
Der Autor: Versicherungsmathematiker
Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)

„Keine Details, welches Stück?“ Diese Anekdote aus dem Theater-Leben einer Souffleuse findet man auch an den Schreibtischen derer, die Reports lesen. Mit einer einzigen Zahl zu erfassen, wie das Unternehmen steht, ob man erfolgreich war und ob die Ziele erreicht wurden, ist das Begehr.

Der erste Blick fällt daher meistens auf den Durchschnitt. Vorausgesetzt der Durchschnitt wurde richtig als gewichteter Mittelwert berechnet, entspricht er dem mathematischen Erwartungswert. Dieser hat aus mathematischer Sicht viele schöne Eigenschaften und ist einfach zu berechnen. Aber gibt er die richtige Information? Und was wären Alternativen?

Aus der Versicherungsmathematik wissen wir, dass der Erwartungswert als Prämie nicht ausreicht und bei endlichem Kapital (unter „Laborbedingungen“) mit Sicherheit irgendwann (!) zum Ruin führt.

Die Versicherungsmathematiker denken daher über Risikozuschläge nach, der Vertrieb eher über Rabatte. Katastrophale Ereignisse wie das Hochwasser zuletzt geben eher ein Signal in Richtung Zuschlag.

Ein Beispiel aus der Preistheorie

Erwartungswerte und Preise sind theoretisch eng miteinander verknüpft (jedes Preissystem, das die für Preise geforderten ökonomischen Eigenschaften besitzt, lässt sich als Erwartungswert einer bestimmten Wahrscheinlichkeitsverteilung darstellen).

Dennoch spielt die Psychologie des Marktes der Ratio oftmals ein Schnippchen: Stellen Sie sich vor, Sie werden zu einem Spielchen eingeladen, bei dem Sie in 99 Fällen 1 Euro verlieren, in 1 Fall aber 99 Euro gewinnen können. Viele werden dieses Spiel „riskieren“ (die große Anzahl an Lottospielern ist der beste Beweis dafür).

Umgekehrt würden Sie vielleicht länger nachdenken, ob Sie bereit wären in 99 Fällen einen Euro zu gewinnen, wenn Sie hingegen 99 Euro im ungünstigen Fall verlieren können. Ganz sicher werden Sie ablehnen, wenn Sie die Zahlen vertausendfachen und einem 99-Prozent-Gewinn von 1.000 Euro stünde ein 1-Prozent-Verlust von 99.000 Euro entgegen (es sei denn, Sie heißen Elon Musk).

Rational ist das nicht zu erklären, denn die Erwartungswerte sind in all diesen Beispielen gleich (nämlich 0). Solche Spiele werden als „fair“ bezeichnet, unabhängig von der Höhe der möglichen Verluste und Gewinne, solange sie sich statistisch ausgleichen. Ist der Erwartungswert also ein gutes Entscheidungskriterium?

WERBUNG

Kleine und (wenige ganz) große Schäden

Als Versicherungsmanager haben Sie mit solchen Spielen täglich zu tun. In der Schadenversicherung haben Sie sehr viele Schäden, die „klein“ sind (aus Sicht der Versicherung), und ganz wenige, die groß sind, dann aber oft sehr groß.

Also sagen wir, wir haben 9.800 Schäden in Höhe von 2.000 Euro und 200 Schäden in Höhe von 200.000 Euro. Der Erwartungswert ist dann ein Schaden von 5.960 Euro (98 % * 2.000 + 2 % * 200.000). Dieser Erwartungswert ist dann die Basis für die Prämie, dabei kommt so ein Schaden in obiger Realität gar nicht vor!

Beeinflusst ist er vor allem von den wenigen Großschäden. Jedes zusätzliche singuläre Großereignis hat daher einen maßgeblichen Einfluss auf die Preisgestaltung für die vielen kleinen Schäden, obwohl sich daran gar nichts ändert.

Der Erwartungswert, ein sinnvoller Anhaltspunkt?

Macht es also Sinn, Veranlagung, Pricing, Underwriting etc. auf diesen Erwartungswert abzustellen? Die Antwort ist klar: ja und nein!

Ja, wenn es darum geht, das Portfolio zu finanzieren, weil man in Summe davon ausgehen muss, dass 59.600.000 (in obigem Beispiel) auch in nächstem Jahr wieder ein guter Schätzer für das Schadenausmaß sein werden (in der Praxis würde man den Einfluss der Großschäden auch durch geeignete Rückversicherungsprogramme abschwächen). Über viele Schäden mittelt sich der Fehler des Erwartungswertes aus.

Nein, wenn es beispielsweise darum geht, Prozesse für den Einzelschaden zu optimieren. Da macht es Sinn, sich auf die häufigsten Fälle zu konzentrieren. Oder wenn es darum geht, sich auf ein Zukunftsszenario für das nächste Jahr vorzubereiten. Auch da ist es sinnvoll, sich mit dem wahrscheinlichsten Szenario auseinanderzusetzen, anstatt mit einem Szenario, das in der Realität gar nicht auftritt.

Denn der Erwartungswert ist dann effektiv, wenn es viele gleichartige Realisierungen gibt, über die sich Schwankungen ausgleichen lassen. Das nächste Jahr kommt aber nur einmal. Und im Allgemeinen ist das „erwartete“ Szenario nicht das „wahrscheinlichste“. Für den Laien oft missverständlich.

Der wahrscheinlichste Wert

Der wahrscheinlichste Wert wird durch den sogenannten Modalwert oder Modus beschrieben. In obigem Fall ist das wahrscheinlichste Szenario für einen Einzelschaden ein Ausmaß von 2.000 Euro. 98 Prozent aller Schäden sind damit umfasst. Der Modalwert ändert sich natürlich nicht durch Großschäden, es ist also aus Risikogründen notwendig, sich zusätzlich mit Extremszenarien oder „Worst-Case-Szenarien“ zu beschäftigen.

Auch die „Lebenserwartung“ ist ein Erwartungswert. Eine Lebenserwartung von 5 Jahren kann bedeuten, dass es viele Personen gibt, die in 2, 3 oder 4 Jahren sterben werden, aber einige wenige die noch 10, 12 oder 15 Jahre leben.

Aktuare lernen sehr schnell, dass die Lebenserwartung keine geeignete Rechengröße ist, um lebenslange Pensionsversprechen abzuschätzen, da der Vermögensaufbau kein linearer Prozess ist. Leider sieht man immer noch Vermögensberater, Ökonomen und andere Berufsgruppen mit Lebenserwartungen hantieren, um Vorsorgeinstrumente zu bewerten. Diese Ansätze gehen sämtlich schief.

Ein weiteres Problem des Erwartungswerts zeigt das Simpson-Paradoxon, dem wir uns in einem separaten Artikel noch widmen werden, um unter anderem zu zeigen, was Baseball mit dem Gender Gap zu tun.

Christoph Krischanitz

Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).

Hinweis: Der nächste Teil der Serie erscheint in zwei Wochen.

Schlagwörter zu diesem Artikel
Aktuar · Elementarschaden · Rückversicherung · Vermögensberater
 
WERBUNG
Ihr Wissen und Ihre Meinung sind gefragt

Ihre Leserbriefe können für andere Leser eine wesentliche Ergänzung zu unserer Berichterstattung sein. Bitte schreiben Sie Ihre Kommentare unter den Artikel in das dafür vorgesehene Eingabefeld.

Die Redaktion freut sich auch über Hintergrund- und Insiderinformationen, wenn sie nicht zur Veröffentlichung unter dem Namen des Informanten bestimmt ist. Wir sichern unseren Lesern absolute Vertraulichkeit zu! Schreiben Sie bitte an redaktion@versicherungsjournal.at.

Allgemeine Pressemitteilungen erbitten wir an meldungen@versicherungsjournal.at.

Täglich bestens informiert!

Der VersicherungsJournal Newsletter informiert Sie von montags - freitags über alle wichtigen Themen der Branche.

Ihre Vorteile

  • Alle Artikel stammen aus unserer unabhängigen Redaktion
  • Die neuesten Stellenangebote
  • Interessante Leserbriefe

Jetzt kostenlos anmelden!

VersicherungsJournal in Social Media

Besuchen Sie das VersicherungsJournal auch in den sozialen Medien:

  • Facebook – Ausgewähltes für den Vertrieb
  • Twitter – alle Nachrichten von VersicherungsJournal.at
  • Xing News – Ausgewähltes zu Karriere und Unternehmen
Diese Artikel könnten Sie noch interessieren
10.6.2024 – Klimawandel und Versicherungslösung für Naturgefahren - wo geht die Reise hin? Der Verband der Versicherungsunternehmen lud zum Pressegespräch und erneuerte seine Forderungen an die Politik, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. (Bild: VVO/APA/Martin Hörmandinger) mehr ...
 
3.5.2024 – Die Wiener Städtische Versicherung hat ihren Geschäftsbericht für 2023 veröffentlicht. Vorstandsvorsitzender Ralph Müller sieht darin das Unternehmen auf einem gesunden und stabilen Wachstumskurs. Optimistisch zeigt sich der Vorstand auch für das laufende Jahr. (Bild: VIG/Robert Newald) mehr ...