6.2.2025 – Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz über Äpfel, faule Birnen und in der Praxis oft vorkommende Milchmädchenrechnungen.
„Das ist so wahr, wie 1 + 1 = 2 ist“ hört man oft in dieser oder ähnlich flapsiger Form. Hm. Was als Totschlagsargument gedacht ist, könnte leicht ein Schuss ins eigene Knie werden. (Entschuldigen Sie bitte die brachiale Ausdrucksweise, aber wenn es um die Wahrheit geht, muss etwas Härte erlaubt sein).
Denn ist 1 + 1 denn immer 2? Und wenn ja, warum eigentlich?
Naja, die Mathematiker haben immer irgendwelche Spitzfindigkeiten auf Lager, werden Sie jetzt denken. Und ja, eine gewisse Präzision im Denken wird schon gefordert, es geht schließlich um viel. Denn was heißt denn dieses „+“ und was ist eigentlich „2“?
Um darauf eine Antwort geben zu können, muss man sich im Klaren sein, was Zahlen eigentlich sind.
Sehen wir uns die „natürlichen“ Zahlen einmal an, also 1, 2, 3, 4 und so weiter (manche nehmen die 0 dazu, aber streng genommen ist das schon eine Erweiterung der natürlichen Zahlen).
Sehr vereinfacht gesprochen erfüllen die natürlichen Zahlen zwei Bedingungen. Erstens ist die „1“ als Einheit enthalten und zweitens gibt es zu jeder Zahl n, die enthalten ist, einen Nachfolger n+1.
Damit gibt es auch einen Nachfolger zu 1, und der heißt eben 2. Es gibt dann auch einen Nachfolger zu 2 und der wird 3 genannt, und so setzt sich das Spielchen fort und man endet schließlich mit (abzählbar) unendlich vielen natürlichen Zahlen.
„1 + 1 = 2“ ist also die Definition für 2! Also stimmt es doch! Jedenfalls in den natürlichen Zahlen und deren Erweiterungen (die bekanntesten sind die ganzen Zahlen, rationalen Zahlen, reellen Zahlen, komplexen Zahlen).
In anderen Zahlensystemen muss das nicht zwingend der Fall sein. Zum Beispiel besteht der Restklassenring modulo 2 nur aus 0 und 1, dort ergibt sich für 1 + 1 = 0.
Mathematische Spielerei und nicht praxisrelevant? Mitnichten. Der besagte Restklassenring modulo 2 beschreibt zum Beispiel die Zustände eines Lichtschalters, also „aus“ und „ein“. Zweimal gedrückt kommt man wieder zum Ausgangswert.
Restklassenringe spielen eine fundamentale Rolle bei Verschlüsselungen, bei zyklischen Codes, die bei CD/DVDs und QR-Codes zum Einsatz kommen und schließlich auch, wenn wir einfach die Uhrzeit angeben, denn 14 (Uhr) plus 24 (Stunden) ist wieder 14 (Uhr).
Es ist also wichtig, auf welchen Umstand man sich bezieht. Eines der Haupteinsatzfelder der natürlichen Zahlen ist das Abzählen. Dazu ordnet man einer Menge von Äpfeln (zum Beispiel) eine natürliche Zahl zu, die die Mächtigkeit der Menge angibt, die sogenannte „Kardinalzahl“.
Jeder beliebigen Menge von Äpfeln wird so eine Kardinalzahl zugeordnet. Die Kardinalzahl von {Apfel, Apfel, Apfel} ist somit drei und wenn ich einen Apfel dazugebe, so entsteht eine neue Menge {Apfel, Apfel, Apfel, Apfel} in diesem System mit Kardinalzahl 4. Und mit den Kardinalzahlen können wir nun rechnen.
Geben wir zu den Äpfeln allerdings eine Birne dazu, funktioniert das Rechnen nicht mehr, weil das Mengensystem sich hier nur auf die Äpfel bezieht. Es ist beim Rechnen also immer wichtig, dass man dieselbe Einheit verwendet.
Kommen wir damit zu einem beliebten Problem, das immer wieder für Verwirrung sorgt – das Prozentrechnen. Ein Prozent ist nichts anderes als der hundertste Teil eines Ganzen. Solange das „Ganze“ dasselbe bleibt, funktioniert das Rechnen wie gewohnt.
Wenn ich also jemandem 20 % von meinem Kuchen gebe und jemand anderem 30 % von meinem Kuchen gebe, so gebe ich insgesamt 50 % meines Kuchens ab.
Wenn ich allerdings jemandem 20 % von meinem Kuchen gebe und dem anderen 30 % vom verbleibenden Rest, so gebe ich insgesamt nicht 50 % ab, sondern 44 % (Übungsaufgabe).
Im zweiten Fall hat sich das „Ganze“, auf das sich die Prozentangabe bezieht, verändert, daher funktioniert die einfache Addition nicht mehr.
In der Praxis kommt das häufig vor. Gesellschafteranteile, Aktien etc. beziehen sich meist auf das Eigenkapital des gesamten Unternehmens und können daher addiert werden (und sollten daher auch nicht mehr als 100 % betragen).
Rabatte, Zuschläge etc. werden oft hintereinander ausgeführt und verändern daher die Bezugsgröße nach jeder Anwendung. 20 % Rabatt und darauf 30 % Rabatt ergibt dann eben nicht 50 % Rabatt, sondern nur 44 % bezogen auf den Ursprungswert.
Allerdings ist es im Allgemeinen egal, welcher Rabatt zuerst ausgeführt wird, da man die Multiplikationen vertauschen kann.
Spannend wird es, wenn man auf Performance-Zahlen oder Wertpapierkurse blickt. Ein Minus von 50 % kann eben nicht durch ein Plus von 50 % wettgemacht werden, weil, wenn man 50 von 100 wegnimmt, bleiben 50 über, und die 50 % Plus von den verbleibenden 50 sind nun einmal nicht mehr als 25 – und so endet man insgesamt bei 75, also einem Minus von 25.
Kursschwankungen von regelmäßig plus 3 % und minus 3 % sind daher in Summe wertvernichtend und nicht werterhaltend. Hierbei ist es egal, ob zuerst das Plus oder zuerst das Minus kommt, Volatilität führt immer zu einem Wertverlust. Der Gesamtverlust ist umso höher, je stärker die Schwankungen sind, im Extremfall endet man bei plus 100 % und minus 100 % jedenfalls immer bei 0.
Die stochastische Finanzmathematik hat in ihrer Kursmodellierung daher immer einen Korrekturwert, der von der Volatilität des Wertpapiers abhängt (Ito-Formel, für die, die es genauer wissen wollen). Die meisten professionellen Perfomance-Berechnungen von Fonds und Indexwerten berücksichtigen dies adäquat.
Ich sehe diese Milchmädchenrechnungen dennoch in der Praxis leider sehr oft, wo mit Kursentwicklungen und ähnlichen Kennzahlen (denken Sie an Mitarbeiterfluktuationen oder andere KPIs, die als Prozentwerte angegeben sind) gerechnet wird wie mit Äpfeln, dabei schleichen sich permanent faule Birnen in die Rechnung ein.
1 + 1 ist also 2, doch behalten Sie die Birnen im Auge!
Christoph Krischanitz
Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).
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