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Hühner, Gefangene und Risikomanagement

20.2.2025 – Wer zieht als Erster die Kugel aus der Flasche? Ein Besuch in der Ausstellung, wie sie es will, oder auf zum Fußball-Match, wie er es will? Und wie lege ich eigentlich meine Strategie beim Abendessen am besten an, wenn vorab ausgemacht wird, dass der Preis für die gesamte Konsumation durch die Anzahl der Teilnehmer geteilt wird? Fragen wie diese können einen in ein Dilemma stürzen – und kommen auch in der Versicherungsbranche häufig vor. Von Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz.

Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)
Der Autor: Versicherungsmathematiker
Christoph Krischanitz (Bild: krischanitz)

Wir sind fünf. Lass uns ein Spiel spielen. Jeder von uns bekommt eine Kugel an einer Schnur und diese Kugeln werden in einer Flasche versenkt.

Das Ziel des Spiels ist es, seine Kugel so schnell wie möglich aus der Flasche zu bekommen. Insgesamt haben wir eine Minute Zeit. Der Sieger bekommt 100 Euro, der zweite 80 Euro, der dritte 60 Euro, der vierte 40 Euro und der letzte immerhin noch 20 Euro. Bereit?

Kennen Sie das Chicken-Dilemma? Denken Sie an James Dean. Zwei Jugendliche setzen sich ins Auto und rasen aufeinander zu. Wer ausweicht, verliert. Der- oder diejenige ist ein Feigling – ein „Chicken“. Beim Chicken-Dilemma geht es darum, wer länger die Nerven behält.

Vernissage oder Stadion?

Nehmen wir ein weniger dramatisches Beispiel. Ein Ehepaar möchte etwas gemeinsam unternehmen. Sie möchte zu einer Kunstvernissage und er möchte ins Fußballstadion (entschuldigen Sie die Klischees, aber so ist das glaube ich immer noch). Er möchte dezidiert nicht zu dieser Vernissage und sie verabscheut die Menschen im Stadion.

Wie sollen sie sich entscheiden? Leider gibt es bei diesem Chicken-Dilemma keine Strategie, die beide befriedigt. Gehen sie ins Stadion, hat er gewonnen und sie leidet. Gehen sie zur Vernissage, ist es umgekehrt. Wer nachgibt, verliert.

Will ich in Haft, und wenn ja, wie lange?

Davon zu unterscheiden ist das sogenannte Gefangenendilemma. Ein Einbrecherpärchen wird geschnappt, man kann ihnen aber nichts beweisen. Nun macht man beiden – unabhängig voneinander – ein Angebot:

  • Wenn beide leugnen, werden sie wegen kleinerer Delikte zu je zwei Jahren Haft verurteilt.
  • Wenn beide gestehen, erhalten sie je vier Jahre Haft.
  • Wenn einer gesteht und der andere leugnet, kommt der Geständige als Kronzeuge frei, während der Leugnende die Höchststrafe von sechs Jahren erhält.

Also wenn der Zweite leugnet, ist es für den Ersten besser, zu gestehen. Gesteht der Zweite, ist es für den Ersten ebenfalls besser, zu gestehen.

Im Endeffekt werden also beide aus rationalen Gründen gestehen und erreichen damit eine suboptimale Lösung, denn am besten würden sie gemeinsam fahren, wenn beide leugnen. So weit, so kompliziert.

Und am Ende hat jeder am teuersten gegessen

Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit neun Freunden in ein gutes Lokal zum Abendessen. Schon im Vorfeld vereinbaren Sie, dass die Rechnung am Schluss einfach durch zehn geteilt wird.

Ein Blick auf die Speisekarte zeigt einen kleinen Salat um 5 Euro und ein saftiges Steak um 35 Euro. Sie haben zwar keinen großen Hunger, aber was werden Sie bestellen?

Wenn alle anderen ein Steak nehmen, zahlen Sie schon automatisch für die anderen 31,5 Euro mit. Da werden Sie doch um 32 Euro keinen Salat essen, sondern bestellen ebenfalls das Steak.

Und da alle so denken, werden 10 Steaks bestellt und jeder zahlt 35 Euro. Und vielleicht wollte ursprünglich kein Einziger so viel essen und ausgeben.

Das Motto: den anderen ausnutzen, den eigenen Vorteil suchen

Das Prinzip des Gefangenendilemmas ist es also, den anderen (im Rahmen der gesetzlichen und moralischen Grenzen) auszunutzen und seinen persönlichen Vorteil zu suchen. Trittbrettfahren, nennt man das auch in der Spieltheorie.

Wenn sich alle an die Umweltregeln halten, kann ich es mir ja erlauben, es nicht so genau zu nehmen, um meinen eigenen Vorteil zu erhöhen. Wenn alle ihren eigenen Vorteil erhöhen wollen, kommen wir letztendlich zum schlechtesten aller Ergebnisse.

Es müssen also Normen und Regeln eingeführt werden, um dieses soziale Dilemma zu verhindern. Individuelle Rationalität führt gesellschaftlich zu suboptimalen Lösungen. Das ist leider keine Ideologie, sondern mathematische Spieltheorie.

Beide Dilemmata in der Versicherungsbranche häufig

In der Versicherungsbranche sind diese beiden Dilemmata (Chicken- und Gefangenen-Dilemma) häufig zu beobachten.

Wir brauchen eine leistungsfähigere Cyberversicherung? Wer sich zuerst bewegt, verliert! Zu wenig Daten, keine guten Modelle, zu hohes Risiko. Der First-Mover geht ein hohes Risiko ein, also lieber erst mal nichts tun. Chicken à la parade!

Naturkatastrophenversicherung detto.

Zusammenarbeit in einem Pool zum Austausch von Betrugserkennung? Wenn die anderen ihre Daten hergeben, muss ich ja nicht alles offenlegen, lass uns doch ein bisschen Trittbrettfahren. Gefangenendilemma par excellence.

Szenarien bewerten und Spielausgänge simulieren

Bei diesen spieltheoretischen Verfahren geht es also darum, Szenarien richtig zu bewerten, die richtigen Wahrscheinlichkeiten für das ökonomische Verhalten zu messen und wiederholte Spielausgänge zu simulieren, ein gefundenes Feld für die Aktuare.

Ach ja, haben Sie das eingangs erwähnte Spiel gespielt? Darf ich raten, wie es ausgegangen ist?

Richtig – alle haben verloren! Jeder wollte unbedingt der erste sein, aber fünf Kugeln passen nicht gleichzeitig durch den Flaschenhals, da können Sie ziehen, wie sie wollen. Niemand hat es geschafft, eine Kugel innerhalb der Spielzeit von einer Minute aus der Flasche zu bekommen. Gesamtauszahlung also null!

Chickens!

Christoph Krischanitz

Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).

Serie „Statistik verstehen“ – bisher erschienen
Schlagwörter zu diesem Artikel
Aktuar · Cyberversicherung · Strategie · Unwetter
 
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