21.3.2025 – Wir Menschen lieben es, Gleiches in „Klassen“ zusammenzufassen. Klassenbildung aufgrund statistischer Erfahrungen ist auch eine zentrale Aufgabe von Versicherungsmathematikern. Aber was ist eigentlich „gleich“? – Von Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz.
Alle Menschen sind gleich. So schön dieser Satz auch sein mag, so gibt er doch viele Rätsel auf! Warum sollten ich und meine Frau gleich sein? Dann hätte ich sie bestimmt nicht geheiratet!
Was bedeutet denn eigentlich „gleich“ sein? Gut, dass Sie mich – einen Mathematiker – das fragen. Ich habe eine tolle Antwort: Die Gleichheit ist eine bestimmte Form der Äquivalenzrelation!
Wenn man Gleichheit als eine Form der „Ununterscheidbarkeit“ betrachtet, dann ist klar, dass es im Auge des Betrachters liegt, was man unterscheiden kann und was nicht.
Für mich sehen beispielsweise alle Personen, die 300 m entfernt sind, gleich aus, dem Augenarzt zum Trotz. Meine Kinder können diese Personen jedoch (noch) gut unterscheiden. Für farbenblinde Menschen ist rot und grün nicht unterscheidbar und Gehörlose erkennen Sie nicht am Klang Ihrer Stimme (um die Beispiele drastisch zu machen).
In der Mathematik sagt man, „man muss durch die richtige Brille sehen“.
Topologen können zum Beispiel Würfel von Kugeln nicht unterscheiden, weil die sich stetig ineinander überführen lassen und daher topologisch äquivalent sind. Für Zahlentheoretiker ist 2 und 5 nicht unterscheidbar, wenn man Restklassen modulo 3 betrachtet.
Jeder Betrachter filtert durch sein sehendes „Auge“ diejenigen Elemente, die das Auge wahrnehmen kann (oder will), alles andere bleibt unsichtbar.
Äquivalenzrelationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie reflexiv, symmetrisch und transitiv sind. Eh klar. Reflexiv bedeutet, jeder ist mit sich selbst äquivalent. Gott sei Dank.
Symmetrisch bedeutet, dass, wenn die Mutter meiner Tochter mit meiner Ehefrau äquivalent ist, dann auch meine Ehefrau mit der Mutter meiner Tochter äquivalent ist. Es geht also in beide Richtungen. Anmerkung: Dieses Beispiel funktioniert nur, weil ich nur eine Tochter und nur eine Ehefrau habe.
Transitiv bedeutet, dass, wenn die Mutter meiner Tochter äquivalent mit meiner Ehefrau ist und meine Ehefrau auch äquivalent mit der Mutter meines Sohnes, dann ist auch die Mutter meiner Tochter äquivalent zur Mutter meines Sohnes. Äquivalenz setzt sich also fort, und ich habe auch nur einen Sohn.
Alle Personen, Objekte, Beziehungen, Einstellungen, Gefühle, Wertigkeiten etc., die äquivalent sind, werden in Äquivalenzklassen zusammengefasst, in denen sie nicht unterscheidbar sind, wobei aber die Äquivalenzklassen selbst gut unterscheidbar sind (wie beim Sortieren von Legosteinen nach der Farbe).
Wir Menschen lieben es, Klassen zu bilden. Manche kämpfen sogar um Klassen. Und wir stecken alle diese Klassenangehörigen in eine Schublade. Anders wäre die Komplexität der Welt für das menschliche Gehirn auch nicht verarbeitbar. Immerhin haben wir schon mehr Klassen zur Verfügung als nur die Unterscheidung „Feind“ oder „Beute“ (allerdings, wie es scheint, auch nicht überall auf dieser Welt).
So sind zum Beispiel alle 25-Jährigen, die einen Honda Civic, Baujahr 2018 fahren und in Wien leben, für die Kfz-Versicherung äquivalent, weil sie derselben Tarifklasse angehören und daher aus dem Blickwinkel des Tarifs ununterscheidbar sind. Diese Art von Klassenbildung aufgrund von statistischen Erfahrungen ist eine zentrale Aufgabe von uns Versicherungsmathematikern.
Manche bilden Klassen für die Geschlechter und möchten dann Gleichheit für diese Klassen (wohl im Sinne einer anderen Äquivalenzrelation, hier sind also zwei „Gleichheiten“ im Spiel); manche trennen Arbeitgeber von Arbeitnehmer und bezeichnen diese als eigene Klassen und wollen keine Gleichheit, manche sagen Gleichheit ist dann gewährleistet, wenn jeder dieselbe Jahrespension erhält, andere sagen, Gleichheit ist erst eingestellt, wenn die Gesamtpensionen über alle Lebensjahre gleich sind.
Die Bildung von Äquivalenzklassen im gesellschaftlichen Leben gehört zum politischen Spiel, diejenigen, die es verstehen, nutzen es aus, die, die es nicht verstehen, japsen hinterher und sind daher lauter.
Was ist denn nun Gleichheit im mathematischen Sinn? Nun, Gleichheit – ausgedrückt durch das Gleichheitszeichen – ist auch eine Äquivalenzrelation, aber mit der Besonderheit, dass alle Äquivalenzklassen nur aus einem Element bestehen, Gleichheit ist also mit Identität „gleichzusetzen“.
Damit sind meine Ehefrau und ich möglicherweise äquivalent in vielerlei Hinsicht, aber gleich sind wir nicht – Gott sei Dank!
Christoph Krischanitz
Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).
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